Das Geschlecht der Medizin. Individualität in medizinischen Konzepten und Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts

Die Geschichte der Medizin erlebt seit den 1980er Jahren eine Neuorientierung: Wurde sie lange Zeit als historische Erfolgsgeschichte geschrieben, die sich aus einer Aneinanderreihung diverser Entdeckungen durch (meist männliche) Ärzte speiste, findet seit einiger Zeit eine kritische Auseinandersetzung mit medizinischen Praktiken statt. Aktuelle Studien belegen, dass Diagnostik, Behandlung und Risikovorhersage bei einer Vielzahl von Erkrankungen bedeutsame Geschlechterdifferenzen zeigen. Dabei meint Geschlecht sowohl das biologische (sex) als auch das soziale (gender) Geschlecht und schließt ein Bewusstsein für vielfältige geschlechtliche Identitäten und ihre lebensweltliche Relevanz mit ein, inklusive queere oder nichtbinäre Personen. Zugleich ist die medizinische Forschung noch vielfach auf den männlichen Normkörper zugeschnitten, berücksichtigt also verschiedenartige Geschlechteraspekte sowie andere Diversitätsmerkmale nicht oder nur am Rande. Schließlich spielen medizinische Gutachten nach wie vor eine bedeutsame Rolle beim Kampf um Anerkennung von Transidentitäten, was zeigt: Geschlecht und Medizin sind aufs engste miteinander verwoben und stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander: Medizin ist in vielfacher Weise vergeschlechtlicht und umgekehrt findet die Vergeschlechtlichung von Patient:innen durch medizinische Praktiken und Konzepte statt.

Die Tagung wählt diese Beobachtung als Fluchtpunkt. Sie will das wechselvolle Verhältnis von Medizin und Geschlecht historisieren und die gesellschaftlichen Dimensionen sowie individuelle Konsequenzen von medizinischem Denken und Handeln ausloten. Der Körper war stets ein umkämpftes Feld, sein Status quo weder selbstverständlich noch notwendig. Besonders für das 19. Jahrhundert, aber auch für das 20. Jahrhundert gilt deshalb, dass verschiedene medizinische Konzepte und Praktiken zwar parallel zueinander existierten, ihnen der Glaube an den (männlichen) Normkörper aber ebenso eingeschrieben war wie die Überzeugung, dass männliche und weibliche Körper bestimmte biologisch determinierte sozial wirksame Funktionen haben. In welcher Weise und mit welchen Konsequenzen Gesundheit und Krankheit von diesen Prämissen ausgehend gedacht wurden, wollen wir auf unserer Tagung an konkreten Beispielen diskutieren.

So rückte der Körper um 1900 in Debatten der sozialistischen Bewegung rund um 'Ausbeutung', Arbeitsbedingungen, Entlohnung und das Ideal der körperlichen Unversehrtheit in den Mittelpunkt. In welcher Weise, warum und mit welchen sozialen Folgen dabei der arbeitende weibliche Körper anders gedacht wurde als der männliche, soll diskutiert werden. Darüber hinaus wurde die hegemoniale Medizin zu einem gängigen Herrschaftsinstrument, das biopolitische Maßnahmen naturwissenschaftlich legitimierte. Inwieweit medizinische Denk- und Handlungsweisen die Kategorie "Geschlecht" in psychiatrischen Behandlungslogiken und sozialpolitischen Maßnahmen berücksichtigten oder ignorierten und welche Folgen für die Feststellung von Gesundheit und Krankheit eines Individuums damit einhergingen, wird in zwei weiteren Panels hinterfragt. Nicht zuletzt soll auch die Alternativmedizin in den Blick geraten, denn auch hier, so scheint es, führte das dichotome Zwei-Geschlechter-Modell zu normativen Diagnose- und Behandlungslogiken, deren Entstehung und Entwicklung wir ebenfalls auf ihre sozialen Konsequenzen hin befragen möchten.

Das Geschlecht der Medizin. Individualität in medizinischen Konzepten und Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts

Datum:
2. bis 4. September 2024

Wissenschaftliche Leitung:
Dr. Annalisa Martin,
Professorin Dr. Annelie Ramsbrock,
Naima Tiné M.A. (alle Greifswald)

Tagungsbüro:
Natalia Zborka M. A.
Telefon +49 3834 420-5012
natalia.zborkawiko-greifswaldde

Veranstaltungsort:
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Martin-Luther-Straße 14
17489 Greifswald