Dr. Hannah von Sass
Alfried Krupp Junior Fellow
(Oktober 2020 - September 2021)
- Geboren 1987
- Studium der Szenischen Künste an der Universität Hildesheim und der Université de Provence Aix-Marseille; Promotion in Deutscher Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin
- Freie Autorin für Theater, Oper und Film
- Ab 2021 Postdoc mit einer DFG-eigenen Stelle am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin
Fellow-Projekt: „Technik, Rahmen, Oberflächen. Zur Metaphorizität des Theatertextes“
Die Beschreibungen von Theatertexten werden in besonderem Maße durch materielle und räumliche Metaphern geprägt. So wird der Theatertext infolge eines wirkmächtigen Paragone Mitte des 17. Jahrhunderts als Gemälde bezeichnet, hundert Jahre später wird er zur Mauer, im 19. Jahrhundert schließlich eine Pyramide. Im späten 20. Jahrhundert wird er zur Maschine erklärt, die schließlich statt Figuren Textträger produziert. Diese oftmals normativ eingesetzten Begriffe beeinflussen die Wahrnehmung von Theatertexten nachhaltig. Die Verlaufsdimension von Theatertexten wird meist nur als neuralgisches Moment mitgeführt. Mit dem geplanten Forschungsprojekt wird eine systemische Forschung zur poetologischen Metaphorizität in Theatertexttheorien angestrebt – Ziel ist es, die epistemische Praxis der Theatertexttheorie nachzuvollziehen, um ihr implizites Set an Denkmustern, Sprachbildern und Zugangsweisen kritisch zu reflektieren. Ein Unterfangen, das überraschender Weise noch aussteht und zugleich an jüngste literaturwissenschaftliche Untersuchungen anschließen kann.
Ergebnisse des Fellowships
I. Zur Fragestellung und Zielsetzung
Dank der großzügigen Förderung durch das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg konnte ich ein Jahr als Junior Fellow in Greifswald verbringen, um an meinem literaturwissenschaftlichen Postdoc-Projekt zu den kanonischen Termini der Dramen- bzw. Theatertextforschung zu arbeiten. Mit dem Forschungsprojekt strebe ich eine systemische Forschung zur poetologischen Metaphorizität in Theatertexttheorien an. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Beobachtung, dass trotz des linguistic turn bisher keine historisch übergreifende Reflexion der impliziten Ontologie von Texten als Werken oder Objekten der Theatertexttheorien stattfand – genau hier setzte mein Forschungsvorhaben in Greifswald an, indem es mit einem metamorphologischen Verfahren das poetikgeschichtliche Erbe der Dramen- und Theatertheorie befragt. Der Begriff „Theatertext“ wird hierbei strategisch verwendet, um beiden Wissenschaftskulturen Rechnung zu tragen; mit ihm werden sowohl der literarische Charakter als auch der Einsatz als Bühnentext und seine Produktivität sui generis benannt.
Als vielversprechendster Ansatz zur Offenlegung von sprachlich latent vorausgesetzten Denkmustern erschien mir die diskursgeschichtliche Untersuchung der Metaphorik. Die Konsequenzen der Darstellungen von Theatertexten als Forschungsgegenstand wurden bisher kaum erfasst. Um die Bedeutung der kanonisch gewordenen Terminologien zu verstehen, gilt es, die Selbstverständlichkeit ihres spatialen und materiellen Ausdrucks einer kritischen Revision zu unterziehen. Um die Entwicklung und Herausbildung theoretischer Sprache zur Beschreibung des Theatertextes nachvollziehbar werden zu lassen und kontextualisieren zu können, bedarf es einer kategorisierenden Übersicht der Metaphern in den kanonisch gewordenen deutschsprachigen Theatertexttheorien und zumindest tentative Erwägungen zu alternativen (und ebenso metaphorisch aufgeladenen) Qualifizierungen.
Das Projekt fragt insbesondere, inwiefern der historische und gegenwärtige Begriffsapparat marginalisiert, dass Theatertexte ebenso ein temporal bedingtes Medium sind. Aktuelle Termini wie Kunstwerk, Textrahmen, Einheit, Textoberfläche, Struktur oder Textur sind Ausdruck eines meist impliziten, doch gleichwohl paradigmatischen Raum- und Materialdenkens der Theoriesprache. Das Konzept der Vierten Wand etwa und des Tableaus sowie die Vorstellungen von Höhepunkten und offenen bzw. geschlossenen Formen prägen die Beschreibung des Theatertextes nachhaltig. Beginnend mit dem Dramendiskurs der doctrine classique lässt sich die Entwicklung vor allem materieller und räumlicher Begriffe eindrücklich nachvollziehen.
Selbst die poststrukturalistischen Metaphern der jüngeren Theatertexttheorie und -analyse evozieren die Vorstellung einer festen Materie, auf die oft unhinterfragt zurückgegriffen wird. Seine Zuspitzung und Konkretisierung findet die postulierte Anschaulichkeit des Theatertextes in Morettis Übertragung von Shakespeare-Dramen in übersichtliche Diagramme. Zwar gibt es Ausnahmen, doch kann die hiesige Skizze dennoch Anspruch auf Repräsentativität für einen prominenten Strang beanspruchen. So zeichnet sich gegenwärtig auch in der Performanztheorie sowie in den Versuchen, eine „Genealogie des Schreibens“ zu erstellen, ein Interesse daran ab, Verlaufsprozesse theoretisch zu ergründen. Jedoch wird Text in beiden Fällen als diametral entgegengesetzter Begriff zum Transitorischen verstanden, sodass dessen sukzessive Momente erneut negiert werden.
In der jüngsten Zeit bildet sich in den Literaturwissenschaften ein neues Bewusstsein für temporale Artikulationen aus, doch ist dieses noch explorativ. An diese verstärkte Auseinandersetzung mit den transitorischen und sukzessiven Momenten von Texten kann das Vorhaben anknüpfen. Zugleich wird die diagnostizierte Eigenzeitlichkeit von Theatertexten in Beziehung zu den nach wie vor materiellen und räumlichen Terminologien gesetzt. Indem das Projekt die Tendenz zu gegenläufigen Metaphern untersucht, geht es über bisher erfolgte Forschungsbestrebungen hinaus. Durch einen dezidiert sprachkritischen Zugriff werden poetologische und diskursanalytische Überlegungen verbunden. Die Untersuchung konzentriert sich folglich auf die Ursachen und Einflüsse der Dominanz einer materiellen und räumlichen Sprache in Theatertexttheorien. Das Vorhaben kann dabei auf Erkenntnissen zur Phänomenologie der Metapher und Metaphorizität der Wissenschaftssprache interdisziplinär aufbauen. Zugleich zeigt sich vor allem die Metaphorizitätsbefragung in der jüngeren Literaturwissenschaft als äußerst fruchtbar. So impliziert etwa die Frage nach dem ‚Wissen‘ der Literatur einen kognitiven Wert der Metaphern, die vormals als vorrangig dekorative Tropen verstanden wurden. Das könnte zur Folge haben, dass die Rhetorik an Bedeutung verliert, stattdessen erfährt die Wirksamkeit der Rede neue Aufmerksamkeit.
Die Untersuchung der materiellen Metaphorik in Theatertexttheorien schreibt sich zudem in die Diskussion eines material turn ein. Dieser macht sich auch in einer medienwissenschaftlichen Öffnung der Literaturwissenschaften hin zu einer Praxistheorie bemerkbar. Als Reaktion auf diese praxiologischen Untersuchungen lässt sich mit dem Projekt fragen, inwiefern theoretische Annäherungen an Theatertexte ihrerseits durch eine künstlerische bis sinnliche (Denk-)Praxis bestimmt werden. Evident ist, dass die ästhetische Praxis der Theorie wiederum in der Kunstpraxis aufgegriffen wird: Das Konzept der Schreibschulen und von Studiengängen, in denen szenisches Schreiben als Handwerk und Technik gelernt werden sollen, steht in direkter Folge sprachlicher Vorstellungen von Theatertexten als Materialen und Bauformen.
In der thematischen Auseinandersetzung mit diesem Vorhaben hat sich zunehmend gezeigt, dass methodisch noch klärungswürdig war, aus welcher Perspektive die Sichtung der Metaphern, der entscheidenden Theoriediskurse und ihrer Entwicklungen vorgenommen wird. In der weiteren Auseinandersetzung habe ich folgende Differenzierung vorgenommen: Erstens ließen sich die Theorien auf ihren historischen Zusammenhang und ihre Wechselwirkung mit politischen, sozialen und philosophischen Einflüssen befragen (kontextuelle Historisierung). Zweitens könnte der geschichtliche und theoretische Zusammenhang genau dieser Theorien samt ihres sich wandelnden Metaphernhaushalts mit Blick auf Schwächungen bzw. Amplifikationen vorangehender Terminologien sowie der Einführung neuer untersucht werden (genetische Historisierung). Schließlich ließe sich aus der Perspektive unserer Gegenwart selbstkritisch prüfen, welche Dynamiken zur zeitgenössischen Kanonisierung bestimmter Metaphoriken beigetragen und diese überhaupt ermöglicht haben (Historisierung heutiger Rezeption). Alle drei Versionen kommen in meinem Projekt zur Anwendung, allerdings liegt der methodische Akzent in der weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik auf der letzten.
II. Neue Impulse für das Forschungsvorhaben
Der während der Arbeit am Wissenschaftskolleg neu gelegte Fokus auf die gegenwärtige Wirkmacht historischer Termini und normativer Ansprüche an Theatertexte hat eine grundlegendere Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik angestoßen, die ich gerade in der zweiten Hälfte meines Forschungsaufenthaltes in Greifswald vertiefen konnte. In diesem Kontext habe ich auch wichtige Anregungen durch die Teilnahme am Forschungskolloquium des Instituts für Philologie erhalten. Anregend waren weiterhin die thematisch weit gefassten, guten Diskussionen, u.a. mit Prof. Eckhard Schuhmacher und Prof. Klaus Birnstiel, an denen ich mit anderen Fellows teilnehmen konnte.
Darüber hinaus habe ich im Sommersemester 2021 ein Seminar zum Thema Die Dramen der Gegenwart. Tendenzen, Themen, Theorien am Institut angeboten. Hintergrund war neben dem eigenem Forschungsinteresse im Zusammenhang mit meinem Projekt, die Beobachtung, dass die unfreiwillige Unterbrechung des Theaterbetriebes vielerorts dazu geführt hat, den status quo der Bühnenkunst und ihrer Ausdrucksformen kritisch zu befragen. Auffällig ist zudem, wie viele unterschiedliche Weisen der Textproduktion sich im Theater der Gegenwart finden: von Schreibkollektiven über Stückentwicklungen, die von Dramaturgien und/oder Probenarbeiten geprägt werden, bis hin zur Bühnenliteratur, die von Online-Formaten beeinflusst werden.
Die Frage, der im Seminar nachgegangen worden ist, lautete daher schlicht: Lassen sich in der Auseinandersetzung mit Theatertexten aus den Jahren 2000 bis 2020 kategoriale Ausdifferenzierungen der Gegenwartsdramatik beobachten? Aufgrund der Diversität und Pluralität der Gegenwartsdramatik war in diesem Rahmen konkret zu prüfen, inwiefern sich Gattungsmerkmale und Formen aktueller Theatertexte überhaupt noch vereinheitlichend beschreiben lassen. So galt es, die aktuelle Leserezeption ebenso wie die Aufführungsrezeption zu untersuchen. Daran schließen sich weitere spannende wie spannungsreiche Probleme an: Worin liegt die veränderte Wahrnehmung von zeitgenössischer Dramatik? Welchen Einfluss übt die „postdramatische Wende“ auf die theoretische Beschreibung von Theaterliteratur aus? Welche Rolle könnte hierbei die Episierung der Dramatik spielen? Nicht zuletzt sind wir auch der Frage nachgegangen, in welcher Weise der Werkbegriff auf gegenwärtige Dramatik angewendet werden kann.
Zunächst hatte ich noch die Hoffnung, das Seminar im Sommer analog geben zu können, diese hat sich jedoch leider nicht eingelöst. Dafür gelang es, den österreichischen Autor Amir Gudarzi und die Schweizer Autorin Ariane Koch für von den Studierenden online geführte Interviews dazuzugewinnen, was die gemeinsame Arbeit sehr bereichert und um weitere wichtige Perspektiven erweitert hat. Es hat mich gefreut, dass sich im Anschluss viele der Studierenden entschlossen haben, eine Hausarbeit im Seminar zu schreiben und somit die Auseinandersetzung mit Theatertexten der Gegenwart noch weiter zu vertiefen.
Ich selbst habe die Konzentration auf die wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit Theaterdiskursen im Anschluss noch in einer teils öffentlichen, teils internen Veranstaltung am Wissenschaftskolleg fortsetzen können. Zu diesem habe ich mit der wunderbaren Unterstützung der Mitarbeiter:innen des Wissenschaftskollegs Dr. Marta Famula (Universität Paderborn), Dr. Silke Felber (Universität Wien), Dr. Maria Kuberg (Universität Konstanz), Dr. Clemens Özelt (Universität Zürich) und Dr. Martin Schneider (Universität Hamburg) zu einem Online-Workshop im August einladen können. Gemeinsam haben wir – eingeleitet von einem öffentlichen Abendvortrag von Dr. Silke Felber – miteinander und mit interessierten Wissenschaftler:innen aus Greifswald ins Gespräch zu aktuellen Forschungspositionen und theoretischen Fragen zur Gegenwartsdramatik kommen können. Von den Erkenntnissen dieses Workshops nehmen wir weiterführende Impulse für eine größer angelegte Tagung zum Thema im Jahr 2024 am Wissenschaftskolleg mit.
Die Zeit vor Ort habe ich insgesamt als sehr konzentrationsfördernd und produktiv erfahren. Pandemiebedingt startete der Aufenthalt etwas turbulent, da sich bei mir frühere Projekte verschoben haben, es familiäre Herausforderungen zu bewältigen gab und allgemein die Kontakteinschränkungen vor Ort durchaus belastend waren. Zwar schafften die wöchentlichen zoom-Meeting mit den anderen Fellows und den Mitarbeiter:innen des Wissenschaftskollegs eine gewisse Stabilität, doch hätte ich mir natürlich gewünscht, dass diese live stattfinden könnten, was bis zum Schluss leider ebenso nicht möglich war wie die Exkursion nach Hiddensee. Umso schöner waren dann die gelegentlichen, sehr angenehmen persönlichen Gespräche, etwa mit Prof. Ulla Bonas und Dr. Christian Suhm, die ich als sehr hilfsbereit, interessiert und unterstützend erlebt habe.
Grundlegend hatte ich eine sehr arbeitsame Zeit am Wissenschaftskolleg, eine großartige Unterkunft mit Blick auf den Dom und immer wieder sehr produktive Gespräche mit den Kolleg:innen am Wissenschaftskolleg und dem Institut für deutsche Philologie, für die ich sehr dankbar bin. Unter den pandemiebedingten Bedingungen kam es zu ausgedehnten Spaziergängen mit den Kolleg:innen. Eine schöne Lösung, die ja auf ihre ganz eigene Tradition zurückblicken kann; man denke etwa an die ausgedehnten Wanderungen auf dem Philosophenweg in Jena, auf dem sich der akademische Austausch im wahrsten Sinne des Wortes bei-läufig abgespielt hat. Alles in allem ein in jedem Sinne außergewöhnliches Jahr am Wissenschaftskolleg, auf das ich schon jetzt gerne zurückblicke.
Liste der im Zusammenhang mit dem Forschungsaufenthalt im Kolleg entstandenen Publikationen
- Rezension zu: Simon Strauss (Hg.): Spielplanänderung! 30 Stücke, die das Theater heute braucht, Stuttgart 2020, in: Arcadia H. 1/2021, 1-6.
- „Undine spricht. Ingeborg Bachmanns ‚Undine‘ im Kontext ihrer medialen Genese“, Aufsatz, Weimarer Beiträge, H. 1/2021, 84-101.
- „Quer-, Nach- und Überdenken. Zum Vollzug der Nachdenklichkeit“, in: Nachdenklichkeit, hrsg. v. Christine Abbt u.a., Diaphanes: Berlin 2020, 71-76.