Dr. Anne Hemkendreis
Alfried Krupp Junior Fellow
(Oktober 2020 - März 2021)
- Geboren 1984
- Studium der Kunstgeschichte und Germanistik an der Ruhr- University in Bochum und dem Trinity College in Dublin
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 948 der Universität Freiburg
Fellow-Projekt: „Verschneit, Vereist, Verewigt? – Mensch und Natur in der Kunst von der Romantik bis zur Eco Art“
Seit der Kunst der Romantik ist die Visualisierung und Rezeption von Schneelandschaften einem fundamentalen Wandel unterworfen, der nicht zuletzt der Klimadebatte geschuldet ist. In Werken der Eco Art überlagern sich der Mythos von Thule als Topos der Unberührtheit und das Wissen um die Bedeutung des Menschen als die dominante geologische Kraft auf diesem Planeten. Dies führt zu einer visuellen Gleichzeitigkeitserfahrung auf der Ebene der Kunstrezeption, changierend zwischen einem existenziellen Verlustempfinden und dem Versprechen auf ein ursprüngliches Wahrnehmungserlebnis fern jeder Dualität. Das kunstwissenschaftliche Forschungsprojekt untersucht die ikonographisch-ikonologischen Reste einer romantischen Ästhetik verschneiter Landschaften und den etablierten Kommunikationsmodellen zwischen Bild- und Betrachter mit Blick auf ihre Einwanderung in Affizierungsstrategien der Gegenwartskunst seit den 1980er Jahren. Schneelandschaften als motivische Formel verdeutlichen die Wanderungen und Inversionen eines Verlangens nach Unberührtheit, das nicht nur als anthropologische Konstante, sondern zudem in seiner Historizität begreifbar und investigierbar wird.
Ergebnisse des Fellowships
Zusammenfassung
Der erste Teil meines Buches ist dem sog. Circumpolar North und seinen herausragenden polaren Heldenfiguren gewidmet, wie Knud Rasmussen und Fridtjof Nansen. Ich interpretiere das Eis als Bühne für die Entstehung und Verbreitung heroischer Erzählungen, die in ihrer frühen Adaption durch weibliche Freiluftmalerinnen (und später durch Foto- und Video- Künstlerinnen) zur selbstbewussten Inszenierung und kritischen Selbstreflexionen dienten.
Im späten 19. Jahrhundert führte die Ausgesetztheit gegenüber klimatischen Extremsituationen zu einer Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit des Menschen von der Natur gegenüber seinem Herrschafts- und Gestaltungswillen. Dieses Spannungsverhältnis erfuhr in der Kunst, wenn männliche Heldenerzählungen von Künstlerinnen adaptiert wurden (Beispiel: Anna Boberg), eine ungewöhnliche Wende. In der Imagination der heimischen Landschaft als Polarregion, d.h. als unberührte und sogar ungesehene Landschaft, wurde die Veränderung der Natur im Kontext der Industrialisierung von Künstlerinnen verstärkt hinterfragt, was den Beginn einer ökologischen Denk- und Darstellungsweise in der Malerei markiert. Gemalte Schneelandschaften, die zwischen ihrer Flüchtigkeit und ihrem archivierenden Potenzial changieren, offenbaren die Spannung zwischen dem Selbstbild von Künstlerinnen als Entdeckerinnen neuer künstlerischer Ausdrucksweisen und als stille Zeugen landschaftlicher Veränderungen. Diese Spannung lebt als Reflexionsfigur in der Verwendung von Schnee und Eis in der zeitgenössischen Kunst weiter, allerdings verbunden mit einem verstärkten Bewusstsein hinsichtlich der imperialen Geschichte der Polregionen und des sich verschärfenden Klimawandels (Beispiele: Pia Arke und Kirsten Justesen). Insbesondere seit den 1980er Jahren werden die physischen wie imaginären Reisen von Künstlerinnen ins Eis zur aktiven Kritik an postkolonialen und ökologischen Verhältnissen.
Der zweite Teil meines Buches konzentriert sich auf die Geschichte der Visualisierung des Südpols und die damit verbundenen polaren Heldengeschichten. Gerade die Antarktis ist ein extrem abgelegener, von Menschen unbewohnter Ort, den nur wenige tatsächlich besucht haben, der sich aber dennoch durch Erzählungen und Bilder in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat. Die Antarktis weist viele Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zur Arktis auf und Gleiches trifft auf die damit verbundenen Heroennarrative zu. Die Weite und Unbewohntheit des antarktischen Kontinents inspirierte Künstlerinnen zu Werken an der Grenze von Kunst und Wissenschaft (sog. SciArt), was auch den Besuchen der dortigen Observationseinrichtungen geschuldet ist.
Ein besonderes Anliegen des Forschungsprojekts ist die Auseinandersetzung mit frühen malerischen Bildern der Antarktis (Beispiel: Nel Law) und mit Fotografien, die sich an einer romantischen Ästhetik orientieren (Beispiel: von Anne Noble). Der pseudo-identifikatorische Rückgriff auf polare Heldennarrative führt heute verstärkt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Eroberungs- und Entdeckungsimaginationen des 19. Jahrhunderts und stellt damit das kulturelle Phantasma „einer spurenlosen Weiße“ in Frage (Judit Hersko). Ein zusammenführender Exkurs ist den Momenten gewidmet, in denen die Arktis und Antarktis selbst zur Bühne werden, und zwar im Kontext physischer Performances. Künstler, die zum Nord- und Südpol reisen, um auf dem Eis zu tanzen (Beispiel: Andrea Juan), bewegen sich in den Fußstapfen der Polarhelden, transzendieren diese aber im Modus ihrer Bewegung und ständigen Überschreibung. Hier wird das Eis erneut zur Bühne, auf der vertraute Heldengeschichten neu erzählt, unterlaufen und umgeschrieben werden. Letztlich wird damit die brisante Frage aufgeworfen und verhandelt: wem gehören zukünftig die Pole?
Künstlerische Positionen
In der Sektion „Eislandschaften des Nordens“ werden die skandinavischen Künstlerinnen Anna Boberg (1864-1935), Pia Arke (1958-2007) und Kirsten Thisted (*1943) besprochen. Anna Boberg war eine Freiluftmalerin, die auf den norwegischen Lofoten Inseln gearbeitet hat. Untersucht werden a) ihr veröffentlichtes Tagebuch in der Tradition von Polarberichten b) ihre künstlerische Vermarktung durch fotografische Aufnahmen vor Gletschern und c) ihre sublimen Gemälde von Eislandschaften und Polarlichtern.
Bobergs Reisen in das Eis und ihre sowohl romantische als auch impressionistische Darstellungsweise markieren den Beginn eines ökologischen Denkens in der Kunst. Thematisiert werden die körperliche Affizierungskraft des Eises, das künstlerische Schaffen unter extremen Bedingungen und die Veränderungen der Landschaft durch die (in Norwegen verspätet) beginnende Industrialisierung. In Bobergs Werk finden sich ironische Kommentare zur männlichen Sicht auf ihre Reisen in das Eis und ein deutlich artikuliertes Selbstbewusstsein bezüglich der eigenen Wahrnehmung als kunstschaffende Abenteurerin. Schneeflächen sind in Bobergs Werk – anders als in den polaren Heldennarrativen – nicht spurenlose weiße Flächen, die zur Eroberung einladen, sondern anschauliche Naturwunder, die durch den technischen Fortschritt bereits verändert und damit gefährdet sind. Hierin zeigt sich ein Wendepunkt in der suggerierten Zeitlichkeit der dargestellten Schneelandschaften, der sich bis zur unwiederbringlichen Verlusterfahrung in Zeiten des Klimawandels weiterverfolgen lässt.
Bei Pia Arke handelt es sich um eine grönländisch-dänische Künstlerin, die nicht nur kunstpraktisch, sondern auch kunsttheoretisch tätig war. Untersucht werden a) die Schriften Arkes („Ethno-Aesthetics“ etc.) b) ihre kartographischen Collagen und c) die mehrteilige Arbeit
„Arctic Hysteria“ (1996). In ihren Collagen, Foto- und Videoarbeiten setzte sich die Künstlerin kritisch mit der Kolonialgeschichte Grönlands und Dänemarks auseinander. Zentral im Werk der Künstlerin sind die Motive der Landnahme und des westlichen Blicks auf die Kultur der Inuit (insbesondere der Frauen), wie sie in den Logbüchern und Berichten der Polarhelden (Knud Rasmussen u.a.) beschrieben wurden. Im spannungsvollen Dialog zwischen Eislandschaft und weiblichem Akt, thematisierte die Künstlerin auf persönlicher Ebene ihre eigene Herkunft und allgemeiner die Metapher unberührter Schneelandschaften als ideale weibliche Körper, die sich dem männlichen Blick gegenüber anbieten.
Die dritte Künstlerin, Kirsten Justesen, reiste ebenfalls nach Grönland und beschäftigte sich mit der Relation von weiblichem Körper und Eis, jedoch nicht hinsichtlich einer kolonialgeschichtlichen Perspektive, sondern mit einem ökologischen Schwerpunkt. In ihrer Werkserie „Ice Script - Melting Time“ (seit den 1980er Jahren) entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Erfahrung von Präsenz und gegenüber der komplexen Zeitlichkeit des Klimawandels.
Im Gegensatz zur Arktis, waren Frauen in der Antarktis bis in die 1960er Jahre hinein eine Seltenheit. Das kunstwissenschaftliche Projekt knüpft darum an die Fragen von Gender und Eis an. Untersucht werden Werke der Künstlerinnen Nel Law (1914-1990), Anne Noble (*1954) und Judit Hersko (*1959).
Nel Law war eine australische Künstlerin und Poetin, die mit ihrem Ehemann und wissenschaftlichen Entdecker die Arktis bereiste und dabei die ersten Aquarellbilder der Eislandschaft aus weiblicher Perspektive anfertigte. Ihr Werk ist bislang kaum erforscht und rückt das Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung und ihrer Visualisierung ins Zentrum. Die neuseeländische Künstlerin Anne Noble setzt sich in ihrem Werk „Iceblink“ (2005) mit den Schattenseiten des sog. „Dark Tourism“ auseinander, der - inspiriert durch die Polarforschung des 19. Jahrhunderts - aktuell eine Konjunktur erfährt. In ihrer kritischen Beschäftigung mit der Ästhetik des Spektakels führt die Künstlerin den medialen und unmittelbaren Konsum von Eislandschaften vor, wobei letzterer wegen seiner problematischen Klimabilanz angeprangert wird.
Die ungarische Künstlerin Judit Hersko schließlich, bewegt sich mit ihrer Arbeit „From the Pages of an Unknown Explorer“ (2006) auf der Grenze zwischen Wissenschaft, Kunst und Science Fiction. Ihre Erfindung einer weiblichen Polarwissenschaftlerin und die fiktiven Seiten eines Tagebuches gewinnen im Werk durch die Verbindung mit dem eisähnlichen Material eine komplexe Zeitlichkeit. Diese referiert auf die archivierende Fähigkeit von Eis und die drohenden Katastrophen durch das Freilassen von im Eis konservierten Viren. Das Eis als Bühne ist hier lebendig und bedrohlich; in seiner zurück- und vorausdeutenden Wirkung bindet es den Betrachter/die Betrachterin in eine Narration ein, deren Ende - mit Blick auf den Klimawandel - unheilvoll ist.
Das Kapitel zum Eis als Bühne für Performances soll schließlich die, in der vorangegangenen Forschung zur Kunst der Arktis und Antarktis hervorgehobenen Kernelemente von Bewegung/Veränderung, Körperlichkeit und Zeitlichkeit zusammenführend betrachten und schärfen. Hierdurch wird eine vergleichende Perspektive auf künstlerische Positionen zu beiden Extremregionen möglich.
Ziele
Ziel dieses Projekts ist es, eine vergleichende Studie von künstlerischen Werken mit genderbezogenen, postkolonialen und klimakritischen Fragestellungen vorzulegen, die auf einer Auseinandersetzung mit polaren Heroennarrativen beruhen. Der analytische Vergleich soll das Verständnis für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten klimakritischer Kunst und ihrer Emotionalisierungsstrategien schärfen.
Das Projekt ist ein kunstwissenschaftlicher Beitrag im Kontext eines „environmental turns“ in den Geisteswissenschaften und soll die Bedeutung kollektiver Imaginationsprozesse in dem Natur-Mensch-Verhältnis von der Romantik bis zur Gegenwart beleuchten. Die Auslotung eines Spannungsverhältnisses zwischen der Notwendigkeit einer Kommunikation abstrakter Naturprozesse und ihrer Krisen mithilfe exzeptioneller Identifikationsfiguren steht dabei – wie ich zeigen möchte - dem Versuch eines systemischen Verständnisses von Ökosystemen spannungsvoll gegenüber.
PUBLIKATIONEN
- Der Sammelband: Ice (St)Ages: Science and Communication in Arts and Popular Culture zu der vom Alfried Krupp Wissenschaftskolleg geförderten Symposienreihe Ice (St)Ages: Icy Imaginaries in Science, Arts and Spectacles Mai-September 2021) wird voraussichtlich Ende 2022 bei Palgrave erscheinen.
ARTIKEL IN VERÖFFENTLICHUNG/ REVIEW
- Science Communication with Snow and Ice: Wilson Bentley’s artistic Photomicrographs, w/k - Between Science and Art (Nov. 2021, peer-reviewed) > Englisch/Deutsch W/K
- Heroes in Miniature: Wandering Images of Thule between Greenland and Denmark (1935-36), The Material Legacies of Nordic Empires, 1400-1979, hg. von Thor Mednick und Bart Pushaw, Routledge (2022) Material Legacies
- Snowy Landscapes: Symbols of Nationality and Cultural Exchange between Germany, Scandinavia and the Baltic Regions?, Visual and Material Culture across the Baltic Sea Regions 1772-1819, hg. von Michelle Facos, Thor Mednick und Bart Pushaw. Routledge (2022)* Visual and Material Culture