Professorin Dr. Dörte Schmidt

Alfried Krupp Senior Fellow
(Oktober 2020 - September 2021) 

  • Geboren 1964 in Pfullendorf
  • Studium der Schulmusik, Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Hannover, Berlin und Freiburg

  • Professorin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin


Fellow-Projekt: „Das Exil im Rücken, die Nachkriegsgesellschaft im Visier. Zu einigen zentralen Bedingungen der deutschen Musikkultur nach 1945“

Wie kaum eine andere Kunst wurde die Musik in der Zeit nach 1945 zur zentralen Prüfungsinstanz für die Beantwortung der Frage, ob und wie die Kultur den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus überlebt habe. Sie fungierte innen- wie außenpolitisch gleichsam als "unbelastetes" Komplement zur Literatur als einem vor allem durch die politischen Remigranten früh politisierten Feld. Bereits Friedrich Meineckes Konzept der Goethe-Gesellschaften ("Goethe lesen, Bach hören") hatte Musik und Literatur zusammengespannt und als "Kunst" vergangenheitspolitisch funktionalisiert. Die Idee des (musikalischen) Kunstwerks erlangte erst durch diese Funktionalisierung und die damit verbundene symbolischen Aufladung nach dem zweiten Weltkrieg die übergreifende Akzeptanz, die vor allem ihre Gegner heute als hegemoniale Denkfigur des 19. Jahrhunderts kritisieren. Das Projekt befasst sich mit den Konsequenzen der kulturellen und vergangenheitspolitischen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg für die deutsche (Musik-)Kultur.


Ergebnisse des Fellowships

Abb. 1: Das LaSalle Quartett beim Einrichten der Stimmen mit der Partitur, stehend Walter Levin (Datum und Fotograf unbekannt); Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt: B3002239; mit freundlicher Genehmigung des IMD.
Abb. 2: Aufführung von Ernst Kreneks 6. Quartett op. 76 durch das Assmann Quartett am 12.8.1954, Foto: Walter Ludwig, IMD-B3000887; mit freundlicher Genehmigung des IMD.

"... ich fühle mich vollkommen in Ordnung in der Wüste, wo ich komponiere". Positionierung und künstlerische Kommunikation in der Musik der Nachkriegszeit[1]

"Der Rosenberg sitzt in Frankfurt a. Main am Radio und der Hildesheimer in Bayern am Starnberger See und malt und der Walter in Colorado Springs und spielt die schönsten Dinge für Streichquartett und ich fühle mich vollkommen in Ordnung in der Wüste, wo ich komponiere",[2] resümierte der zu dieser Zeit in Israel lebende Komponist Herbert Brün im Januar 1950 in einem Brief an Walter Levin, den Primarius des LaSalle-Quartetts, und dessen Frau Evi. Der Brief nimmt eine Art Neukartierung des gemeinsamen Freundeskreises vor, der durch geteilte Erfahrung unfreiwilliger Disloziertheit wie gemeinsame früherer Kreuzungspunkte in Berlin aber auch in Jerusalem verbundenen künstlerischen Existenzen.[3] Man konnte offenkundig nicht darauf rechnen, dass alle an ihren 'angestammten' Plätzen bleiben wollten oder konnten, Verortungen blieben notwendig temporär und mussten immer wieder aktualisiert werden. Adressierung wie Adressierbarkeit lieferten die Grundbedingung für Kommunikation und bildeten in spezifischer Weise die Basis für Kunstproduktion im Bereich der Musik als einer Kunst, die auf Interaktion von Komposition und Aufführung angewiesen ist. Nicht von ungefähr gehört die Vergewisserung darüber zu den zentralen Anliegen in der Korrespondenzen nach dem Krieg und diese bieten so einen wichtigen Ausgangspunkt für die Erforschung der Bedingungen einer Musikkultur der Nachkriegszeit.[4]

            Zu Beginn seines Briefes führt Brün sich als Reisender in dieser Nachkriegs-Landschaft ein, nimmt den Bericht über einen Aufenthalt in London zum Anlass, eine der Wegkreuzungen der Briefpartner in der Vergangenheit aufzurufen: er sei "seit Dahlem und Grunewald nicht mehr soviel und mit solchem Vergnügen spazieren gegangen. Die dramatischen Bombenruinen sind inzwischen schon romantisch überwachsen". Ein Parisaufenthalt mit der israelischen Tänzerin Noa Eskhol, scheibt er weiter, habe ihm Kompositionsstunden bei dem der Wiener Schule nahestehenden Komponisten René Leibowitz ermöglicht (der – das muss gegenüber den Levins nicht weiter kommentiert werden – einer der zentralen Vermittler des dort entwickelten und exilierten kompositorischen Denkens in Frankreich und durch Übersetzungen auch in den USA war). Brün skizziert damit seinen historischen und geographischen, aber eben auch ästhetischen wie kompositionstechnischen Bezugs- und Bewegungsrahmen als eine Art Topographie seiner Nachkriegsexistenz. Die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten (Arbeiten für das Radio wie Aufführen, Malen wie Komponieren) wurden dabei mitprotokolliert und Brün tat dies, wie man am Ende des Briefes erschließen kann, im Kontext der Komposition seines für das LaSalle Quartett gedachten ersten Streichquartetts:

            "Mein Quartett wird, unter den herrschenden Umständen, in zwei drei Monaten fertig. Wenn ich Phrasierungsbögen mache, kannst Du, Walter, dann die Striche reinmachen? Ich trau mich noch nicht."[5]

            Die Artikulation (Phrasierungsbögen und Bogenführung) als Ansatzpunkt ist dabei nicht zufällig, war dies doch die Ebene, an der sich hörbar die an Schönbergs Denken geschulte Auffassung vom musikalischen Zusammenhang zeigte, die nicht nur in der kompositorischen Struktur liegt, sondern auch an der Ausführung; ein "Dialekt ohne Erde" – wie man mit Adorno sagen könnte.[6]

            Die erste akademische Residenz-Position des Quartetts in Colorado und den damit abgesicherten Rahmen für Aufführungsmöglichkeiten empfand Brün als Impuls für seine eigene Arbeit als Komponist. Und es war nicht wichtig, dass dies an einem bzw. diesem Ort geschah, sondern dass das personelle Netzwerk bestand: der Wüstentopos referiert dabei nicht einfach auf Brüns Aufenthaltsort, sondern liefert gleichsam einen doppelten Boden im Blick auf die Frage nach den Bedingungen künstlerischer wie existentieller Fruchtbarkeit unter den Bedingungen einer über die Welt verstreuten Kultur, die auf Verwurzelung und Qualität der "Erde" nicht setzen wollte. In dem bereits zitierten Brief betonte Brün mit einer gewissen ironischen Emphase – offensichtlich in Reaktion auf eine Bemerkung Walter Levins über Schönbergs Musik – die existentielle Bedeutung des Umfeldes bzw. Netzwerks:

            "Die Theorie wird noch einmal seine einzige Rettung vor dem Untergang im Allzumenschlichen sein. Ich meine das ernst und beziehe mich keineswegs ausschließlich auf die 12Ton Technik sondern auch auf die ihr folgenden Notwendigkeiten",

            und verbindet diese Mahnung mit dem Verweis auf die sich klar in die Verantwortung für das Überleben dieses musikalischen Denkens stellenden Publikationen:

            "Die Bücher vom Leibowitz habe ich alle von ihm mit Widmung geschenkt bekommen und mit Interesse gelesen. Am besten finde ich das über die Variationen für Orchester. Obwohl ich die Dika Newlin sehr gerne habe und für ein kleines Genie halte, obwohl ich sie häufig traf und den Kontakt mit ihr zu meinen Gewinnen rechne, bin ich von ihrem Buch Bruckner, Mahler Schönberg nicht allzu begeistert. Ihr werdets schon selber gemerkt haben. Sie ist noch zu jung um keine Amerikanerin zu sein."

            Aus der persönlichen Perspektive auf die sich nach dem Krieg ausbildenden transatlantischen Echoräume hebt Brün die Bedeutung der theoretischen Diskurse für die Verortungsvorgänge hervor und nimmt die Haltung der amerikanischen Komponistin und Musikwissenschaftlerin Dika Newlin zu ihrem Lehrer Schönberg (wie sie sich im Sendungsbewusstsein der Schlussbemerkung ihrer Dissertation kondensieren)[7] zum Anlass, sehr klar seinen Zweifel zu artikulieren: Nationale Identifikationsanprüche jeder Art standen offensichtlich quer zu seiner Lebenserfahrung (deshalb die Referenz auf die Jugend der Autorin), boten keine belastbare Basis für die fällige Neukartierung der Nachkriegskultur. Vielmehr plädiert Brün mit dieser Bemerkung implizit für eine Migration als Erfahrung voraussetzend Topographie – die Möglichkeiten, Kontinuitäten nach dem Bruch zu denken und zu leben stehen in der Diskussion.

            Zwei weitere Quartette wurden von Levin bei Brün in Antrag gegeben und ebenfalls vom LaSalle-Quartett uraufgeführt: das zweite 1958 nach dem Wechsel der Universität in Cincinnati; das dritte 1962 in Deutschland im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse.[8] Und auch der im Brief erwähnte und nach Deutschland zurückgekehrte Komponist und Publizist Wolf Rosenberg hat für LaSalle zwei Werke komponiert, die 1957 in Cincinnati und 1963 in Köln (im Rahmen der WDR-Reihe "Musik der Zeit") uraufgeführt wurden. Für die drei Weggefährten sollten die Darmstädter Ferienkurse im Laufe der 1950er Jahre ein neuer Treffpunkt werden.[9] Das LaSalle-Quartett und sein Primarius Levin sollten dort in der Nachfolge Rudolf Kolischs für die aus dem Exil zurückgekehrte Kultur stehen und über seine Kompositionsaufträge die Vorstellungen vom Streichquartett nach 1950 entscheidend mitprägen.

Die (Quartett-)Landschaft, in die Levin und das LaSalle Quartett ab dem ersten Besuch 1956 eintrat, war bereits ebenso spannungsreich wie produktiv belebt durch Gebliebene wie – das war ein durchaus explizites Programm der Ferienkurse dieser Jahre – Exilierte, durch Belastete wie Verfolgte. Das 1939 gegründete, nach dem Krieg von Berlin nach München übersiedelte Freund-Quartett, dessen Primarius im Oktober 1944 von der Wehrmacht freigestellt worden war,[10] gehörte genauso zu den Protagonisten wie das Frankfurter Lenzewski-Quartett. Dessen Primarius hatte dem Regime nicht nahegestanden, war schon in den 1920er Jahren der Avantgarde zugewandt gewesen und positionierte sich nun dezidiert mit Schönberg-Aufführungen. 1947 bereits kam (zunächst als Konzertbesucher) der Emigrant Maurits Frank, ehemals Quartett-Partner von Paul Hindemith in dessen Amar-Quartett, der im Jahr drauf und dann (mit Ausnahme eines Jahres) bis 1956 unter die Dozenten zählte und mit seinem Amsterdamer und später Kölner Streichquartett präsent war. Ab 1953 gehörte der Geiger und berühmte Quartettprimarius Rudolf Kolisch zu den Dozenten. Bereits seit 1951 hatte sich der Leiter der Ferienkurse, Wolfgang Steinecke um ihn bemüht. Die Perspektivierungen, die sich aus der Verbindung von persönlicher Geschichte und Repertoire-Gestaltung in der – für die Darmstädter Ferienkurse programmatischen – Interaktion von Komposition und Aufführung ergaben, sind mehr als aufschlussreich. Neue Musik erweist eines der zentralen Medien der Positionierung. Die Trennlinien zwischen politischen, persönlichen und ästhetischen Positionierungen in diesem Feld liefen erkennbar nicht parallel. Die historische Quellenkritik, die Überlieferungen darauf hin befragt, wer was wann wem gegenüber äußert, liefert auch im ästhetischen Feld ein wirksames Werkzeug.

*

Ein bemerkenswertes Beispiel für die Selbstpositionierung einer gebliebenen Formation in der Nachkriegslandschaft liefert das Frankfurter Assmann-Quartett, das sich in Darmstadt im Januar 1953 im Rahmen eines Konzerts der Musikgesellschaft mit der Uraufführung eines Streichquartetts von Ernst Krenek einführte: Das Stück war 1936, also noch vor der Emigration, entstanden, die Uraufführung durch das Kolisch-Quartett war bereits angekündigt, konnte aber nicht mehr stattfinden.[11] Als Partitur wurde es 1937 noch bei der Wiener Universal Edition gedruckt, und 1949 von René Leibowitz in seiner (auch in Herbert Brüns eingangs diskutiertem Brief erwähnten) Einführung in die Zwölftonmusik – vermutlich auch in seinen Darmstädter Kursen – als Beispiel für die Entwicklung einer spezifisch dodekaphonischen Formensprache diskutiert.[12] Es war jedoch bisher nicht aufgeführt worden. Im Jahr darauf konnte das Quartett mit diesem Stück im Krenek zu seinem 50. Geburtstag gewidmeten Eröffnungskonzert der Ferienkurse erneut auftreten (in dem darüber hinaus namhafte Emigranten wie Rudolf Kolisch, der Bratscher Michael Mann, ein Sohn Thomas Manns, sowie der Komponist selbst auftraten).[13]

Assmanns Quartett-Arbeit hat eine bemerkenswerte Geschichte: Bereits 1941 in Krakau, wo Klaus Assmann als Konzertmeister im Opernorchester wirkte, führte er eine Formation dieses Namens an und gehörte sozusagen zum 'Kulturvorhang' des berüchtigten Generalgouverneurs Hans Frank.[14] Das war 1954 durchaus bekannt, wie man dem Eintrag in Kürschners Musikerkalender aus diesem Jahr entnehmen kann.[15] Nachdem Assmann sich 1945 in Frankfurt ansiedelte, gründete er ein neues Quartett gleichen Namens (betonte also auf diese Weise Kontinuität) und positionierte es nun systematisch im Umfeld der Wiener Schule. So spielte das Ensemble bereits im Januar 1951 mit einem Einführungsvortrag Adornos das Quartett op. 6 im Rahmen eines Krenek-Abends der Frankfurter Universität,[16] und, wie man der Korrespondenz zwischen Adorno und Kolisch entnehmen kann, im November diesen Jahres bei der Eröffnung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung fast emblematisch den ersten Satz aus Schönbergs zweitem Quartett (und den ersten Satz aus Brahms op. 76).[17] Den Kontakt mit dem emigrierten Komponisten Krenek hatte Assmann aktiv gesucht. Im April 1952 schrieb Klaus Assmann an Wolfgang Steinecke, betonte den Einsatz seines Quartetts für die zeitgenössische Musik, berief sich darin bereits auf Krenek als Referenz und schlug ihm die Uraufführung des 6. Quartetts im Rahmen einer Veranstaltung im Darmstädter Rahmen vor. Er schließt explizit mit einer Bemerkung dazu, wie sehr eine Aufführung gerade in Darmstadt die Positionierung des Quartetts unterstützen würde.[18] Bis Steinecke, der die Sache zunächst offensichtlich nicht sehr aktiv verfolgte, sich bei Krenek rückversicherte, verging einige Zeit. Zunächst lenkte er die Aufführung von den Ferienkursen um auf die eher regional ausstrahlende Konzertreihe der Kranichsteiner Musikgesellschaft und bemerkte überdies, dass man dort keine Honorare zahlen könne. Assmann willigt dennoch ein. Im November fragte Steinecke schließlich bei Krenek nach (und erbat ggf. auch einen Einführungsvortrag),[19] der antwortete umgehend und ausführlich:

            "Ich bin außerordentlich erfreut, zu hören, daß das Assmann-Quartett mein 6. Quartett bei Ihnen spielen wird. Herr Assmann ist durchaus korrekt. Wenn er das Stück nicht schon gespielt hat (was ich nicht annehme), so ist es tatsächlich die Uraufführung nach 16 Jahren! Es handelt sich also um eine Art Sensation, und ich bitte Sie, das propagandistisch in jeder Weise auszunützen. Das Stück ist bisher von allen Quartetten also so unerhört schwierig abgelehnt/befunden worden, daß es sie mehrere Monate anstrengende Arbeit kosten würde u- dergl. Was daran ist, weiß ich nicht, doch glaube ich schon, dass es speziell rhythmisch äußerst schwierig ist. Es gehört, zusammen mit meinen 12 Variationen für Klavier, zu meinen 'radikalsten' Werken in der Zwölftontechnik. Es besteht aus fünf Sätzen. Jeder der ersten vier ist auf einer der Grundformen der Reihe basiert (Original, Umkehrung, Retrograd, Retrogradumkehrung). Der 5. Satz ist eine Quadrupelfuge, in der alle Formen der Reihe zusammen verwendet werden (48 Formen im Ganzen).

            Bitte schicken Sie mir Programme und Kritiken und bitten Sie Herrn Assmann, mir zu schreiben, wo und wann er das Stück sonst zu spielen gedenkt. Die Aufführung sollte unbedingt als eine Art Ereignis publiziert werden – sie ist nämlich ein Ereignis. Hoffentlich wird Assmann bald eine Bandaufnahme machen können, von der ich dringend eine Kopie haben möchte. Können Sie das vielleicht arrangieren?"[20]

            Das konnte Steinecke. Die Aufnahmen sowohl der Uraufführung, als auch der Nachaufführung 1954 finden sich im Archiv des Internationalen Musikinstituts.[21] Und das Programmheft zur Uraufführung zitierte ausführlich aus Kreneks Brief, der die Uraufführung bestätigte und die kompositorische Avanciertheit des Werkes herausstellte – wie es gemacht war, spielte für die Frage, was das Stück zu diesem Zeitpunkt bedeuten konnte, offensichtlich eine zentrale Rolle. Auch René Leibowitz' bereits erwähnter Kommentar zu diesem Stück betonte zum einen die Konsistenz über die Reihenstruktur, verwies aber auch über die Erwähnung der ineinander übergehenden Sätze und großformalen Beziehungen auf ein Formmodell, das von Dika Newlin in ihrer Dissertation so deutlich mit der Wiener Schule verbunden hatte: Die Überblendung von Sonatensatz und -zyklus.

            Im März 1953 wandte sich Assmann – mit Briefkopf des Quartetts – in einem ausführlichen Brief an Krenek, der für den hier verhandelten Zusammenhang aufschlussreich ist, nicht nur, weil er Assmanns proaktive Bemühungen um Kreneks Quartett und seine eigene ästhetische Positionierung bekräftigte, er sich dort auch ausdrücklich für Kreneks Anerkennung der Aufnahme der Uraufführung bedankte, sondern vor allem weil auch er die Verbindung von ästhetischer und politischer bzw. persönlicher Haltung herstellte: Ein Bericht über seinen Wohnungs-Umzug, der durch Schikanen seines den Nationalsozialisten nahestehenden ehemaligen Vermieters nötig geworden sei, gibt Assmann Gelegenheit, die Verfolgungsgeschichte seiner Familie anzudeuten. Assmanns Schilderung der familiären Schicksale deckt sich mit den Befunden aus den Entnazifizierungs-Fragebögen und ist auch durch weitere Quellen belegbar.[22] Und in diesem Setting aus persönlichen und ästhetischen Standpunkten schließt Assmann am Ende mit der strategischen Frage, ob Krenek sein Werk nicht dem Quartett zueignen könnte. Es ginge ihm, so schreibt Assmann ausdrücklich, darum Kreneks Namen in Europa so bekannt zu machen, wie es ihm gebühre.[23] Angesicht der Tatsache, dass Krenek in den 1920er Jahren durch seinen europaweiten Opernerfolg Jonny spielt auf einer der meistaufgeführten und erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit gewesen war, fehlt einem in diesem Satz vielleicht ein "wieder" – das häufig beobachtbare Anknüpfen an die Avantgarden der 1920er Jahre ist hier nicht das Ziel. Es geht offensichtlich um  Neupositionierung – und wie in einem Vexierbild bleibt am Ende offen, wer hier eigentlich wen positioniert.

*

Ausgangspunkt meines Fellow-Projektes war die Frage, welche Konsequenzen das Exil für die Kunstmusik der Nachkriegszeit hat, und damit verbunden: ob und wie Gebliebene und Exilierte über die Musik als Kunst wieder in Kontakt kommen. Dass dabei die Mediengeschichte des Exils eine spezifische Rolle spielen würde, der (medien)philologische Blick auf die Quellen produktiv sein würde, gehörte bereits am Beginn des Forschungsjahres zu den zentralen Thesen.[24] Die "Signaturen des Medialen" als Beobachtungsprogramm aufzufassen, wie Christina Barz und andere dies in der Einleitung ihres Handbuchs der Mediologie formulieren, hat sich auch als historiographischer Ansatz bewährt und in der Anwendung erweitert.[25] Angekommen bin ich bei einer detaillierten Beobachtung des Neu- und Wiederaufbaus ästhetischer Räume nach der existentiellen Erfahrung des Zersprengens und der Dislozierung sicher geglaubter kultureller Konsistenz – eine Erfahrung, zu der sich Gebliebene ebenso verhalten mussten wie Vertriebene.[26] Werk- wie Aufführungszusammenhängen als Resultat  biographischer, politischer wie ästhetischer Verortungs- und Adressierungsleistungen zu verstehen, ist dafür grundlegend. Modelle wie Perspektive und Formatierung erlauben auf verschiedenen Ebenen Aufführen wie Komponieren als raumkonstituierende (und darin auch potentiell autonome) wie raumgreifende Vorgänge formal zu fassen. Gattung, Aufführungskontext, aber auch musikalische Formmodelle können so als Relationsangebote  begriffen werden. Die Idee der Kammermusik als kleinbesetzte und damit pragmatisch mobile, aber ästhetisch mit emphatischem Autonomieanspruch bemächtigbare Kunstform liefert dafür ein spezifisches ästhetisches Paradigma, dessen Potential offensichtlich auch die Protagonistinnen und Protagonisten des geplanten Buches bereits erkannt und produktiv gemacht haben. Dies verbindet die Fallstudien zu Quartett (wie hier am Beispiel gezeigt wurde) und Lied. Entstanden sind im vergangenen Jahr erste Fassungen zu den meisten Kapiteln und mehrere bereits publikationsreife Aufsätze, sowie die Fertigstellung einer kommentierten Notenedition – eine solide Basis also für den Abschluss des Projektes unter den  Arbeitsbedingungen des akademischen Alltags.

            Mein Dank, das soll hier nicht zu kurz kommen, gilt dem Kolleg, der Stiftung, meinen Fellow-Kolleginnen und -Kollegen und allen, die hier auf die unterschiedlichste Weise für uns da waren, für diese wertvolle Möglichkeit, hier ein Jahr in einem der Pandemie abgetrotzten, interdisziplinär belebten, in vieler Hinsicht anregenden Freiraum zu verbringen, dessen Effekte auf das Denken ich nach vielen Jahren im Trubel des Universitätsbetriebs sehr genossen habe. Von all dem werde ich über mein Buchprojekt hinaus noch lange profitieren. Last not least habe ich Walter Werbeck und Birger Petersen zu danken, die mich schon vor längerem mit dem Kolleg als Ort bekannt gemacht haben, und – vielleicht am wichtigsten – Kilian Heck, ohne dessen sanften Schubs ich den Antrag vielleicht nicht gestellt hätte.

Projektspezifische Publikationen im Förderjahr:

  • "Haben Sie inzwischen etwas Neues komponiert?" Kompositionen zwischen Exil und Rückkehr von Leo Bütow, Richard Engelbrecht, Wolf Rosenberg und Brigitte Schiffer, hrsg. von Matthias Pasdzierny und Dörte Schmidt (Kommentierte Notenedition), erscheint voraussichtlich München: Text & Kritik Dezember 2021
  • Emigration an the Transfer of Ideas after World War II, erscheint in: Eastern European Emigrants and the Internationalisation of 20th-Century Music Concepts, hrsg. von Anna Fortunova und Stefan Keym, Hildesheim u.a.: Olms voraussichtlich 2022.
  • .. She would smile ...... – Zum Spiel mit Adressierung und Überlieferung in Harrison Birtwistels Widmungsstück für Brigitte Schiffer, erscheint in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung 2018/19 voraussichtlich 2022.
  • "Das hat sehr viel mit Politik zu tun". Beethoven, das LaSalle-Quartett in Bonn und das Verhältnis von Aufführungs- und Kompositionsgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg, erscheint in: Beethovens Vermächtnis. Mit Beethoven ins Exil. Bericht über das Internationale Symposium Bonn 1.-3. März 2018, hrsg. von Anna Langenbruch, Beate Angelika Kraus und Christine Siegert, Bonn: Beethoven-Haus (= Schriften zur Beethoven-Forschung Bd. 32) voraussichtlich 2022.

In direkter Verbindung zwischen meinem Projekt und dem von Bettine Menke entstand:

  • "Ans Werk!". Zu Mauricio Kagels Turm von Babel, erscheint in: Stimme - Ausdruck - Philosophie, hrsg. von Violetta Waibel und Salome Kammer (mit CD-Beilage), München: Text & Kritik voraussichtlich 2022.

In Zusammenarbeit mit Bettine Menke entstand überdies:

  • Wie sich das Staunen in Neugier wandelt oder Proserpina, Medea, Ariadne und Musik-Maschinen-Theater in Gotha – mit einem Seitenblick auf Goethe, erscheint in: Theatermaschinen – Maschinen-Theater. Von Mechaniken, Machinationen und Spektakeln, hrsg. von Bettine Menke und Wolfgang Stuck, Bielefeld: Transcript voraussichtlich 2022

[1] Für großzügige Unterstützung bei meinen Recherchen und die Erlaubnis, bisher unpublizierte Quellen zu zitieren bzw. Photos zu veröffentlichen danke ich sehr herzlich Stephan Brün (Chicago), Jürgen Krebber (Internationales Musikinstitut Darmstadt) und Clemens Zoidl (Ernst Krenek Archiv, Krems)
[2] Herbert Brün an Walter und Evi Levin, 21.1.1950, Sammlung LaSalle Quartet, Paul Sacher Stiftung Basel..
[3] Brün, Rosenberg und Levin verbinden Kindheitserfahrungen in Berlin, Hildesheimer und Rosenberg lernten sich während der Schulzeit am OSI kennen; in den 1930er Jahren trafen sich nach und nach alle in Palästina (zuletzt und als jüngster ab 1938 Levin).
[4] Hier zeigt sich wie die Debatte über "erste Briefe" fruchtbar wird für die Frage nach den Netzwerken insgesamt, vgl. u.a. Erste Briefe/First Letters aus dem Exil 1945-1950. Unmögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils, hrsg. von Primus Heinz Kucher u.a., München 2020.t
[5] Ebd; zu Levins Beziehung zu Herbert Brün, siehe auch Robert Spruytenberg, Das LaSalle-Quartett. Gespräche mit Walter Levin, München 2011, S. 295 ff. Offensichtlich hat es länger gedauert als angekündigt: Levin erinnert die Komposition für 1952, uraufgeführt wurde das Werk jedenfalls erst nach dem Wechsel des Quartetts an die Universität von Cincinnati 1954 im Rahmen des IGNM-Festes in Tel Aviv und in der Folge auch an der Universität.
[6] Theodor W. Adorno, Schubert (1928), in: Moments musicaux, zit. nach: Gesammlte Schriften, hrsg. von Rold Tiedemann, Bd. 17(Musikalische Schriften VI), Frankfurt/M. 2003, S. 18-33, hier S. 33. Ganz offensichtlich gibt es im Bereich der Musik eine Parallele zu jener Debatte um das Verhältnis von Sprache, Kultur und Territorium, die im Fellow-Projekt von Bettine Menke erforscht wird.
[7] Newlin spielt dort ihrerseits auf den in dieser Zeit prominenten "Erde"-Topos an, sieht eine erneute Verwurzelung dieser musikalischen Tradition in Europa als unmöglich und schließt daraus eine Verpflichtung an die amerikanische Musikkultur, sie zu bewahren und weiter zu kultivieren; Dika Newlin, Bruckner, Mahler, Schoenberg, New York 1947, S. 277.
[8] Spruytenberg weist für das erste Quartett vier, für das zweite sechs und das dritte zehn Aufführungen nach, siehe ebd., S. 397 f. In Darmstadt hatte Brün bereits 1958 eine Uraufführung mit einer Arbeit aus dem elektronischen Studio des WDR, siehe Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 1946-1966, hg. von Gianmario Borio und Hermann Danuser, Freiburg 1997, Bd. 3, S. 590.
[9] Ab 1955 besuchte Brün mit seiner Frau Marianne (der Tochter des Regisseurs Fritz Kortner) die Kurse als Teilnehmer (im Archiv finden sich Anmeldungen für die Jahre 1955 bis 1963), 1962 fand ein Werkstattgespräch mit Stefan Wolpe statt, 1965 und 1966 wirkte er als Dozent für Computermusik mit; Rosenberg war dort ab 1956 als Berichterstatter für den Bayerischen Rundfunk (Akkreditierung durch Franziska Senger vom 19.6.1956, IMD-A100076-201476-20). 1966 dokumentiert ein internes Arbeitsgespräch Brüns und Rosenbergs Mitwirkung an der Vorbereitung einer Tagung zu "Zeit in der Neuen Musik", die dann allerdings nicht zustande kam (gemeinsam mit Adorno, Ligeti und Rudolf Stephan, siehe Darmstadt Dokumente I, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1999 (= Musik-Konzepte Sonderband), S. 313-329.)
[10] Fred K. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945, Kiel/Auprès de Zombry 22009, S. 2562 und 9547.
[11] Siehe hierzu u.a. Theodor W. Adorno - Ernst Krenek Briefwechsel 1929-1964, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Berlin 2020 (=Adorno, Musikalische Briefwechsel 1), S. 222 f.
[12] René Leibowitz, Introduction a la musique de douze sons, Paris 1949, S. 255 f.
[13]  Zu Krenek in Darmstadt und zur Bedeutung des Ferienkurs-Jahrgangs 1954 siehe: Claudia Maurer Zenck, Und dann ins Eck gestellt. Ernst Krenek als vermittlungswillige (und verschmähte) Vaterfigur, in: Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse 1946-1996, hrsg. von Rudolf Stephan u.a., Stuttgart 1996, S. 157-163.
[14] In dessen Diensttagebuch es auch vorkommt; Eintrag 28.9.1943: "Kammermusikabend des Assmann-Quartetts in Krakau", in: Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939-1945, hrsg. von Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer, Stuttgart 1975, (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Bd. 20), S. 737.
[15]Kürschners Deutscher Musiker-Kalender 1954, hrsg. von Hedwig Mueller von Asow u.a., Berlin 1954, Sp. 39: "Assmann, Klaus, Konz.Mstr. (V) *21.VI.16 Solingen - V. Hermann A. Komp. - […] I. Konz.Mstr. 37-40 StadtTh Koblenz, 40-41 NationalTh Weimar, 40-44 StaatTh. Krakau, ab. 41 Leit. Assmann Quart. ab 45 OpHaus u. MuseumOrch, Frankfurt/M." Das Wissen um die über den Namen des Quartetts eingebundene Vorgeschichte in Krakau verlor sich offensichtlich mit der Zeit: 1975 liest man in der Rubrik "Nachrichten" der Zeitschrift Musica: "Das Assmann-Quartett, es wurde 1945 von Klaus Assmann gegründet, hat sich neben der Pflege der Klassik vor allem für die zeitgenössische Musik eingesetzt.", in: Musica 29 (1975) 3, S. 278.
[16] Hierzu Adorno – Krenek Briefwechsel (wie Anm. 11), S. 425 ff.
[17] Theodor W. Adorno an Rudolf Kolisch, 16.11.51 (Brief Nr. 74), in: Theodor W. Adorno – Rudolf Kolisch Briefwechsel 1926–1969, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, erscheint voraussichtlich Berlin 2022 (= Adorno, Musikalische Briefwechsel 2); mein herzlicher Dank gilt Claudia Maurer Zenck für diesen Hinweis und die Möglichkeit im Voraus auf die Publikation zu referieren. Von wem die Initiative für dieses Engagement ausging ist bisher unklar: Nach Auskunft von Michael Schwarz, Archiv der Akademie der Künste Berlin, findet sich hierzu nichts in der Korrespondenz Adornos, auch eine Anfrage beim Archiv des Instituts für Sozialforschung Frankfurt ergab bisher keine weiteren Hinweise.
[18] Klaus Assmann an Wolfgang Steinecke, 23.4.1952, Internationales Musikinstitut Darmstadt: A100002-200059-08. Anfang Juni erhielt Assmann die Stimmen von Krenek (er bestätigte ihren Eingang am 3.6.), die Korrespondenz zwischen Krenek und Assmann findet sich im Nachlass von Ernst Krenek, Ernst Krenek Institut Krems.
[19] Wolfgang Steinecke an Ernst Krenek, 21.11.1952, Internationales Musikinstitut Darmstadt: A100028-200603-20
[20] Ernst Krenek an Wolfgang Steinecke, 25.11.1952, Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt: A100028-200603-19
[21] Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt: M-14405 (16.1.1953) sowie M-5552 (12.8.1954).
[22] Die Angaben zur politischen Haltung des Vaters und der Gefährdung des Bruders entsprechen denen auf den im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden verwahrten Meldebögen zu den Spruchkammerverfahren von Klaus Assmann, seinen Vater Hermann Assmann und seinen Bruder Wolfgang Assmann. Auf allen ist die Einstufung als Nichtbetroffen vermerkt. Überdies ist die strafrechtliche Verfolgung von Wolfgang Assmann aus dem Jahr 1943 aktenkundig (HHStAW Bestand 486, Nr. 2129). Für Auskünfte danke ich sehr herzlich Tim Emmel, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.
[23] 1953 hat Krenek offenbar zugestimmt, wie der Dankesbrief Assmanns vom 21.10.1953 belegt, Ernst Krenek Archiv, Krems.
[24] In der Fellowlecture konnte ich das, an Annegret Pelz anknüpfend (von der ich, als ich dies zu überlegen begann, noch nicht wusste, dass sie vor mir hier Fellow sein würde), bereits ansprechen: www.wiko-greifswald.de/mediathek/beitrag/n/das-exil-im-ruecken-die-nachkriegsgesellschaft-im-visier-zu-einigen-zentralen-bedingungen-der-deutschen-musikkultur-nach-1945/
[25] Christina Barz, Ludwig Jäger, Marcus Krause und Erika Linz, Einleitung, in: Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, hrsg. von denselben, München 2012, S. 7-15, hier S. 11-14.
[26] Dabei habe ich entscheidend profiziert von Bettine Menkes Überlegungen zum Theater als Fluchtraum und zur Anderssprachigkeit der Sprache.