Dr. Nicoletta Bruno
Alfried Krupp Junior Fellow
(Oktober 2022 - September 2023)
- PhD in Classics an der Università degli Studi di Bari „Aldo Moro“ (2017) und DPhil Visitor an der University of Oxford
- Fritz-Thyssen Stiftung Stipendiatin an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2019-2021)
- Honorary Research Fellow am Birkbeck, University of London (Okt.-Apr. 2019-2020) und Visiting Fellow am Institute of Classical Studies, London (Herbst 2019-2020; Winter 2021-2022)
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Thesaurus Linguae Latinae, Bayerische Akademie der Wissenschaften (2017-2019)
Fellow-Projekt: „To Unravel the Origins: Writing ‘Archaeologies’ in Classical Antiquity“
„Archäologien“ bezog sich auf alle Arten von Erzählungen der frühen Geschichte, mündlich und schriftlich, von Genealogien und Gründungsgeschichten bis hin zu allgemeineren Formen der Mythographie. Sie enthüllen Ursprünge und Ursachen, aber ist es möglich, die Ursprünge der „Archäologien“ zu enträtseln?
Dieses Projekt hat drei bahnbrechende Ziele:
i) die Anerkennung dessen, was von der Mündlichkeit in schriftlichen „Archäologien“ übrig geblieben ist, wobei der Schwerpunkt auf Aufführungen in Griechenland und Rom gelegt wird;
ii) eine ausgewählte Sammlung der alten Quellen, zum ersten Mal in einer einzigen Studie, die den Inhalt, die Struktur und die wiederkehrenden Motive dieser alten Erzählungen untersucht;
iii) die Analyse der rhetorischen Strategien beim Schreiben einer Geschichte der fernen Vergangenheit. Die Hauptherausforderung dieses Forschungsantrags besteht darin, zu versuchen, die Geschichte, die Prozesse der Auswahl, des Verlusts und der Rezeption der „Archäologien“ nachzuvollziehen, indem man sich im Wesentlichen auf die Perspektiven der antiken Leser konzentriert.
Ergebnisse des Fellowships
Dank
Ich möchte meine herzliche Dankbarkeit für die unschätzbare Gelegenheit ausdrücken, das Forschungsprojekt „To Unravel the Origins: Writing ‚Archaeologies‘ in Classical Antiquity“ am angesehenen Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald im Jahr 2022/2023 durchzuführen.
Die unerschütterliche Unterstützung des Instituts und die kooperative Atmosphäre waren entscheidend für den Erfolg dieses Forschungsprojekts. Es war eine Ehre, unter herausragenden Gelehrten zu arbeiten, deren Erkenntnisse für die Tiefe und Breite dieses Projekts von entscheidender Bedeutung waren. Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Herrn Dr. Christian Suhm und Frau Prof. Dr. Ulla Bonas für ihre anregenden Gespräche und die wertvollen Ratschläge, die sie mir großzügig gewährt haben. Ihre Unterstützung und ihr intellektueller Beitrag haben meine Forschungsbemühungen erheblich bereichert und inspiriert.
Ich bin zutiefst dankbar für die wunderbare Erfahrung, die ich während meines Aufenthalts in Greifswald gemacht habe. Die Ruhe und Stille dieser Stadt, das Rufen der Möwen in der Luft und die kurzen Tage des Winters haben eine friedliche und inspirierende Atmosphäre geschaffen. Die Mittagessen während des Fellowlunch mit meinen Kollegen, die mittlerweile zu Freunden geworden sind, waren wertvolle Momente des Teilens und des Ideenaustauschs. Die langen und angenehmen Sommertage haben ebenfalls einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen. Sie verliehen meinem Aufenthalt eine erhebliche Leichtigkeit und Freude. Das Büro und die Wohnung, die mir während meines Aufenthalts zur Verfügung gestellt wurden, haben meinen Aufenthalt angenehm und äußerst produktiv gemacht. Die Schönheit der Region Mecklenburg-Vorpommern hat dieser Erfahrung eine besondere Note verliehen, die eine gemütliche Atmosphäre schuf. Die außergewöhnliche Effizienz der Dienstleistungen des Krupp Kolleg ermöglichte es mir, mich vollständig auf meine Forschung zu konzentrieren, ohne logistische Sorgen. Es ist schwer vorstellbar, ein glücklicheres Forschungsjahr als das, das ich hier am Krupp-Kolleg verbracht habe. Ich bin dankbar für jede Minute, die ich in dieser faszinierenden und inspirierenden akademischen Gemeinschaft verbracht habe.
Allgemeiner Inhalt des Forschungsprojekts
In der klassischen Antike wurde der Begriff ‘Archäologie‘ von den Griechen und Römern anders konzipiert als in modernen Interpretationen. Er war nicht mit der Untersuchung greifbarer Relikte aus der Vergangenheit (‚Ausgrabung‘) verbunden, sondern stellte vielmehr einen umfassenden narrativen Rahmen dar. Dies umfasste verschiedene Arten der frühen historischen Berichterstattung, von Gründungsmythen bis hin zu umfassende Mythografien und Berichten über die frühe Kulturgeschichte des antiken Griechenlands und Roms.
Das Forschungsprojekt konzentrierte sich auf die folgenden drei Abschnitte:
- i. Das Erbe verlorener mündlicher ‚Archäologien‘ in griechisch-römischen schriftlichen Quellen (5. Jh. v. Chr. - 4. Jh. n. Chr.)
- ii. Die Konstruktion von ‚Archäologien‘. Inhalte, Muster und gemeinsame Motive
- iii. Wahrheit in der Fiktion. Rhetorik und Geschichte in den ‚Archäologien‘
‚Archäologie‘ (aus dem Griechischen archaiología) bedeutet wörtlich ‚die Rede über die Vergangenheit‘ und ist ein Mittel, die Vergangenheit der Alten zu untersuchen und zu erzählen. Sein lateinisches Pendant, antiquitas, hat eine ähnliche Bedeutung und verkörpert das Wissen über die sehr ferne Vergangenheit. Diese Begriffe in der Antike umfassten jedoch nicht vollständig das, was heute als ‚antiquarische Literatur‘ oder ‚antiquarisches Wissen‘ bekannt ist. Sie konnten auch historische Erzählungen umfassen, die die ferne Vergangenheit detailliert darstellten, wie es in Werken wie Dionysius von Halikarnassos‘ Romaiké Archaiología (1. Jahrhundert n. Chr.) zum Ausdruck kam. Zur gleichen Zeit wie Dionysius verfasste Varro ein Werk (Antiquitates rerum divinarum et humanarum), dass eher dem antiquarischen Genre zuzuordnen ist, das im Allgemeinen Neugierde über systematische historische Untersuchungen stellte. Angesichts des fragmentarischen Zustands von Varros Werk ist jedoch nicht abschließend zu sagen, dass er die historischen Veränderungen im Laufe der Zeit vollständig vernachlässigte, da einige seiner anderen Werke ein kritisches Verständnis für die Entwicklung der römischen Gesellschaft zeigen. Abgesehen von antiquitates ist der lateinische Begriff origines (in Marcus Porcius Catos historischem Werk aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. vorhanden) ebenfalls mit dem Konzept der griechischen archaiologíai verbunden und bezieht sich auf den Fokus auf Ursprünge oder Anfänge in der historischen Diskussion. Antike und frühneuzeitliche Texte verknüpfen häufig chronologische Geschichtsberichte mit Erkundungen von Bräuchen und Institutionen, was darauf hinweist, dass die Grenze zwischen antiquarischer und historiographischer Arbeit möglicherweise nicht so klar definiert ist, wie man zuvor glaubte.
Um Verwechslungen zwischen antiken und modernen Kategorien zu vermeiden, sollte der Titel von Dionysius Romaiké Archaiología als „Antike Geschichte Roms“ übersetzt werden, um ihn von der modernen Vorstellung von antiquarischer Neugierde abzugrenzen. Diese Interpretation wird durch die Untersuchung des ersten Auftretens des Wortes archaiología in Platons Hippias Major gestützt. Im Gegensatz zu Athen, das prächtige Monumente zur Erzählung seiner bewegten Vergangenheit vorweisen konnte, vertraute Sparta mehr auf diese Erzählungen, um soziale Identität und kulturelles Gedächtnis zu fördern, und präsentierte archaiología im Wesentlichen als eine lokale Geschichtserzählung, die sich hier auf die Geschichte Spartas konzentrierte.
Daher könnte Dionysius‘ Romaiké Archaiología als herausragendes Beispiel einer schriftlichen und vollständigen Lokalgeschichte interpretiert werden, die die politische und kulturelle Erzählung Roms umfasst. Ebenso vermitteln die lateinischen Begriffe und Konzepte von antiquitates und origines die Lokalgeschichten Roms, wobei Diodor von Sizilien (1. Jh. v. Chr.) darauf hinweist, dass archaiología kulturgeschichtliche Elemente mit Elementen der Mythologie verschmilzt. Auch Werke von Herodot und Thukydides enthalten ‚Antiquitäten‘, die frühe Geschichten und Veränderungen in Griechenland beschreiben und auf die primitiven Formen des Erzählens und Argumentierens von Geschichte in historischen Erzählungen hinweisen.
Die ‚Archäologien‘ sind daher eine urtümliche Form des Erzählens und Argumentierens von Geschichte sowie ein Argument innerhalb der historischen Erzählung, wobei Argumentation oder Thema gemeint sind. ‚Archäologien‘ haben viel mit rhetorischen Reden gemein. Die zusammengefassten Geschichten der fernen griechischen und römischen Vergangenheit finden sich in verschiedenen Arten von historischen Werken. ‚Archäologien‘ können als Vorworte zu einem Werk oder einem einzigen Buch, als Exkurse oder als Argumente in direkten Reden eingefügt werden, um ein Thema einzuführen und die Ursprünge und Ursachen einer Geschichte, eines Volkes oder eines Krieges zu erklären, mit Elementen der Kulturgeschichte, wie in den Fällen der Prologe von Thukydides‘ Geschichten (Kapitel 2-19) und Sallust (Kapitel 6-13 Catilina), die sowohl von antiken Scholiasten als auch von modernen Gelehrten als ‚Archäologien‘ bezeichnet werden. Die rhetorische Funktion der ‚Archäologie‘ ist insbesondere in der These relevant, dass sie auch ein Thema in der antiken Geschichtsschreibung und in anderen literarischen Gattungen ist. Geschichte und Redekunst verschmelzen in diesem Sinne, und der Ursprung dieser didaktischen Funktion der Geschichtsschreibung in der Vergangenheit datiert auf die Zeit, als die ‚Archäologien‘ durchgeführt wurden. Das Zeugnis dafür stammt genau von Plato, dem ersten Vorkommen des griechischen Begriffs.
Um zusammenzufassen, ist die Archäologie für die Antike selbst die Geschichte der Antike, die Geschichte der Ursprünge und ein entscheidendes Thema des historiographischen Genres. Die Reflexion über die Vergangenheit hilft, die Gegenwart zu erklären, die Zukunft vorauszusagen und eine absichtliche historische Erzählung zu erstellen, die die Ursachen der Geschichte erzählt und dazu beiträgt, über die Natur des Menschen nachzudenken.
Methoden
Diese Forschung untersuchte sorgfältig die Primärquellen, die ‚Archäologien‘ enthalten, und betonte die Bewahrung eines kulturellen Erbes, das seine Wurzeln im 5. Jahrhundert v. Chr. oder sogar früher hat. Dies ist durch wiederkehrende Motive, strukturelle Rahmenbedingungen und die ‚Entwicklung‘ der ‚Archäologie‘ zu einer ausgezeichneten literarischen Konstruktion erkennbar, wie sie in klassischen historischen und philosophischen Abhandlungen zum Ausdruck kommt. Die Forschung verfolgte einen multidisziplinären Ansatz, der philologische Nahlektüren sorgfältig ausgewählter Texte und die Anwendung der ‚Leser- Antwort-kritik‘ kombinierte. Unter Berücksichtigung der Rolle des Lesers bei der Interpretation von Texten berücksichtigte dieser Forschungsansatz, wie unterschiedliche Zielgruppen (antike und moderne) diese ‚Archäologien‘ interpretieren können. Dieses Projekt überprüft nicht nur die Ursprünge der historischen Diskussion und methodischen Praktiken, sondern ruft auch zu einer tiefgreifenden Neubewertung der Konzeption des Geschichtenerzählens auf.
Ergebnisse
- Vorschlag für eine bearbeitete Buchausgabe bereit zur Einreichung
Titel des Buches: Archaeologies, Origins, Antiquities. Narrating Early Cultural History in Ancient Greece and Rome (ed. Nicoletta Bruno) - Buchvorschlag
Titel des Buches: Roman ‘Archaeologies’. Narrating the Past, Constructing the Identity, Shaping the Future
Mein Jahr in Greifswald: Forschungsaktivitäten, Veröffentlichungen und Vorträge
Forschungsaufenthalt im Ausland:
- Harvard University, Department of the Classics und Widener Library im November 2022 (6.-20.11.22)
Organisierter Vortrag am Krupp Kolleg:
- Prof. Andrew Laird, From Classical Rhetoric to Etnohistory in Post-Conquest Mexico. Εducation of a Native Elite, and Its Consequences, 12. Juni 2023. Moderation: Dr. Nicoletta Bruno
Öffentliche Vorträge und Konferenzbeiträge:
- 2022 Seneca 2020. International Conference. What more can we say about Seneca? (Lisbon, 17-22 October 2022)
Titel: Philosophy of History and Ecocriticism in Seneca, Epistles 89, 90, 91 - 2023 Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Winter Program, Fellow Lecture Winter 2022/2023 (18th January 2023)
Titel: Writing ‘Archaeologies’ in Roman Literature - 2023 Titubanti Testi (Ghent University, online via Zoom), 27th February 2023 (Organizer: Prof. Marco Formisano)
Titel: Lucr. 5, 1350-1360 - 2023 CAMWS, 119th Annual Meeting on March 29-April 1, 2023, in Provo, Utah, USA, at the Provo Marriott Hotel and Conference Center at the invitation of The Utah Classical Association (abgelehnt, aufgrund eines Vorstellungsgesprächs)
Titel: Other (Hi)stories on Tiberius. On the Recruitment of the Emperor’s Magistrates (Sen. Epist. 83.14–15; Plin. HN 14.143-145) - 2023 Forschungsseminar Latinistik (LMU München), 2 May 2023
Titel: Ethnogeschichte der Neuen Welt erzählen. Philosophie der Geschichte und historische Methoden in De Orbe Novo Decades von Petrus Martyr d’Anghiera - 2023 Rostocker Altertumswissenschaftliches Kolloquium (Universität Rostock, Heinrich-Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften) 17. Mai 2023
Titel: Antike Literaturkritik zu Archaiologíai, Origines, Antiquitates - 2023 Symposium Peregrinum 2023. Soriano nel Cimino (Viterbo), Italy. June 23 to June 26, 2023 Origines gentium. The Origins of Greeks, Etruscans, Romans, and Others.
Titel: Archaiologíai, Origines, Antiquitates: Ancient History and Antiquarian Literature. - 2023 KU Eichstätt-Ingolstadt, Gastvortrag, 4. Juli 2023
Titel: Erinnern und Vergessen nach Kaiser Tiberius - 2023 Abendsvortrag, Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium, Greifswald. 20. September 2023.
Titel: Archaiologiai, Origines, Antiquitates: alte Geschichte und antiquarische Literatur
Veröffentlichte wissenschaftliche Artikel in Peer-Review-Zeitschriften und Kapitel in Büchern im Jahr 2023-2024:
- Lexicographer and Lexicography. Critical Studies and New Perspectives from Antiquity to the Present (ed. Nicoletta Bruno), Special Issue, «Trends in Classics. Journal of Classical Studies» 15.1, 2023.
- Latin Lexicography and Textual Criticism: A Textual Note on Valerius Flaccus Argonautica 5.380, in Lexicographer and Lexicography. Critical Studies and New Perspectives from Antiquity to the Present (ed. Nicoletta Bruno), Special Issue, «Trends in Classics. Journal of Classical Studies» 15.1, 2023, 181-189.
- Gigantomachy in Lucr. 5. 110-121 in «Giornale Italiano di Filologia», 75, 2023, 101-118 (im Druck).
- Nicola Festa interprete di Virgilio, Orazio, Properzio in Nicola Festa ottant’anni dopo, Nunzio Bianchi, Rosa Otranto (eds.). Roma: Edizioni di Storia e Letteratura, 2023, 53-62 (im Druck)
- Suetonius on Tiberius’ Misanthropy and Self-Reproach, in eds. Edoardo Galfrè, Christoph Schubert, Suétone narrateur. Biographie und Erzählung in den Vitae Caesarum. Berlin/Boston: Millennium Studies, De Gruyter, 2024, 63-81. (Im Druck).
- Translating Cicero: Notes on Maximus Planudes’ Σκιπίωνος ῎Ονειρος in Late Byzantine Latinitas: Latin in Late Byzantine Scholarship (13th century – 1453), eds. Evangelos Karakasis, Vaios Vaiopoulos, Vasileios Pappas, Stella Alekou, series Corpus Christianorum, Lingua Patrum. Turnhout: Brepols Publisher, 2024 (kommender Band).
Veröffentlichte enzyklopädische Einträge im Jahr 2023:
- Silence in The Tacitus Encyclopedia, ed. V.E. Pagán. Oxford/Malden: Wiley-Blackwell Press, 2023.
Veröffentlichte Rezensionen im Jahr 2023:
- Claudia Beltrão da Rosa, Federico Santangelo, Cicero and Roman religion: eight studies. Potsdamer Alterumswissenschaftliche Beitrage, Band 72. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2020. In «Arctos» 56, 2022, 207-211.
- How Ancient Greeks and Romans Represented Their Past: A New Volume on Ancient Memory, review of De Marre (M.), Bhola (R.K.) (edd.) Making and Unmaking Ancient Memory. Pp. xvi + 324, ills. London and New York: Routledge, 2022. Cased, £120, US$160. ISBN: 978-0-367-37144-9, in «Classical Review» 2023, 1-3.