Wer sich mit der Institution Chor um 1800 befasst, wird mit einer Vielfalt von Ausprägungen konfrontiert, die ahnen lässt, dass die Wurzeln des Chorvereinswesens weiter in das 18. Jahrhundert zurückreichen als bisher angenommen. Konsequenterweise wird die Forderung nach interdisziplinären Ansätzen in der historischen Chorforschung lauter. Denn maßgeblich für den Aufschwung und die rasche Ausdifferenzierung des Chorsingens waren politische und gesellschaftliche Umbrüche der Sattelzeit ebenso wie ein Wandel der Geselligkeitskultur, der wiederum eng verbunden war mit einem neuen (musikalischen) Bildungsverständnis. Dies gilt für traditionelle Bereiche wie Kirchen- und Schulmusik, Oper und Oratorium, zudem für neue Entwicklungen im Bereich der Männerchöre, etwa mit Blick auf Klopstocksche „Bardenchöre“ in Vertonungen von Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen, gesellige Chorlieder von Mitgliedern der Zelterschen Liedertafel oder „Rundgesänge“ des Schweizers Hans Georg Nägeli. Entscheidende Impulse für den deutschsprachigen Raum kamen dabei durchaus aus anderen europäischen Musikkulturen, vor allem aus Italien, Frankreich, England, den nordischen Ländern und Russland. Spuren, die es lohnt weiterzuverfolgen, um nicht nur nationale, sondern auch internationale Entwicklungen der Chorkultur in Vergangenheit und Gegenwart besser verstehen zu können.
Friedhelm Brusniak studierte Schulmusik, Geschichte und Musikwissenschaft in Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. war er von 1981 bis 1988 Akademischer Rat am Lehrstuhl für Musikwissenschaft der Universität Augsburg. Dort habilitierte er 1998 mit einer Studie zu den Anfängen des Laienchorwesens im 19. Jahrhundert. Seit 2010 ist er Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Dokumentations- und Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens.
Moderation: Dr. Martin Loeser