Im europäischen Mittelalter nimmt die Literatur Islands eine Sonderstellung ein: Von Anfang an wurde in der Volkssprache geschrieben. Für das isländische Selbstverständnis liegt die Identität in der Macht des Wortes: Mit Worten wurde die isländische Geschichte (re-)konstruiert, die Christianisierung durchgesetzt und die soziale Hierarchie gerechtfertigt. Nachdem mit der Christianisierung auch die lateinische Schrift nach Island gelangt war, entstanden nicht nur Übersetzungen lateinischer Texte, sondern bald auch neue Texte in der Volkssprache, die keine formale Entsprechung in anderen europäischen Kulturen haben und die sich sehr oft mit Fragen isländischer Geschichte und mit isländischen Personen befassen.
Die isländische Sprache und die in ihr verfasste Literatur bildeten die kulturelle Grundlage des Landes, lange bevor sich im 19. Jahrhundert der Gedanke „ein Volk, eine Sprache, eine Kultur“ durchsetzte. Die Macht der isländischen Worte sicherte die Existenz des Landes. Noch heute bildet die altnordische Literatur das Fundament des isländischen Selbstverständnisses. Auch andere Kunstformen beziehen sich häufig auf die großen literarischen Werke der isländischen Literatur. Ein Überblick über literarische Gattungen und zentrale Werke soll die mächtige Stellung der isländischen Literatur des Mittelalters verdeutlichen.
Stefanie Gropper studierte Nordische Philologie, Neuere deutsche Literatur und Ältere deutsche Sprache und Literatur an der LMU München. Nach ihrer Promotion im Jahr 1987 habilitierte sie sich 1995 im Fach Nordische Philologie. Seit 1996 ist Stefanie Gropper Inhaberin des Lehrstuhls für Skandinavistik an der Universität Tübingen.
Moderation: Dr. Anita Sauckel