Als er „La Bohème“ schrieb, kannte Puccini Paris gar nicht – wohl aber den allgegenwärtigen Mythos von der Stadt der freien Liebe und der freien Kunst. Die Vorlage, „Das Leben der Bohème“ von Henri Murger über die Schicksale einer Gruppe junger Künstler und ihrer Freundinnen, hatte nicht wenig dazu beigetragen. Puccini und seine Mailänder Mitstudenten lebten selbst ein „Leben der Bohème“: Paris ist überall. Doch Puccini schreibt eine deutlich ,französisch‘ bestimmte Oper. Impressionistische Klänge zur Schaffung eines Lokalkolorits bestimmen die Komposition ebenso wie die aus französischen (und italienischen) Traditionen gespeiste Gesanglichkeit, die zur Trägerin der dominierenden Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und Mimì wird und der gegenüber die Gruppendarstellung zurücktritt. Im Vergleich mit Ruggero Leoncavallos gleichzeitig entstandener „Bohème“ wird gezeigt, wie der Entzauberung der Wirklichkeit bei Puccini eine Verklärung der Liebe entgegensteht, wenngleich auch diese im Schlussbild von der Realität eingeholt wird: Mimì haucht ihr Leben tonlos aus. In der Spannweite von Ekstase und Bitterkeit liegt die Kraft von Puccinis (Wieder-)verzauberung.
Volker Mertens lehrt seit 1977 Ältere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Gastprofessuren übernahm er in Frankreich, der Tschechischen Republik, den USA, in England, in der Volksrepublik China und der Schweiz. Seine Forschungsgebiete liegen im Bereich der mittelalterlichen Literatur, der Mittelalterrezeption, von Richard Wagner und Thomas Mann sowie der Oper des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Volker Mertens gestaltete Radiosendungen für den Sender Freies Berlin, Radio Berlin Brandenburg und den Mitteldeutschen Rundfunk sowie Programmheftbeiträge für die Berliner Philharmoniker, das Konzerthausorchester und die Bayreuther Festspiele.
Moderation: Dr. Christian Suhm