Die Bibel als Roman. Unerhörte Ansichten eines mittel­alterlichen jüdischen Gelehrten

Fellow Lecture,Öffentlicher Abendvortrag

Wer liest heute noch die Bibel? Sind nicht für Jugendliche Harry Potters Abenteuer viel spannender, und stöbern nicht Erwachsene heute auch lieber in Fantasy-Literatur als in der Bibel? Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch unter den Juden Nordfrankreichs im 12. Jahrhundert beobachten. Das wöchentliche Lesen des Bibelabschnittes wurde zunehmend zur langweiligen Pflichtübung. Die im höfischen Milieu entstandenen arthurischen Legenden oder Antiken-Romane (Roman de Brut, Estoire de Merlin) schienen weitaus mehr das pralle Leben widerzuspiegeln und die Befindlichkeit der Menschen zu treffen. Im 13. Jahrhundert finden wir sogar eine hebräische Fassung des Artus-Romans.
 
Für die jüdische intellektuelle Elite bedeutete dies: Wenn die Menschen nicht zur Bibel finden, dann muss die Bibel zu den Menschen finden, und dieses Ziel wurde mit teilweise außergewöhnlichen Mitteln und (Auslegungs-)Wegen verfolgt. So haben die jüdischen Gelehrten das Hohelied als hebräisches Pendant zu den zeitgenössischen chansons de femme präsentiert. Mit ihren ‚rapprochements littéraires’ suchten sie die hebräische Erzählkultur der französischen höfischen Literatur an die Seite zu stellen. Der Vortrag führt auf eine spannende Reise in das jüdische und gar nicht finstere Mittelalter.

Hanna Liss (*1964 in Burgwedel) lehrt an der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg, im Fach Bibel und Jüdische Bibelauslegung. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der mittelalterlichen jüdischen Bibel- und Kommentarliteratur in Westeuropa (1000-1300) sowie thematisch auf der Theorie und Praxis der rituellen Reinheit im Judentum. Als Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg beschäftigt sie sich mit der Literaturtheorie des R. Samuel ben Meir (12. Jh.) aus Rouen.  Darüber hinaus arbeitet sie an einer kritischen Edition und Übersetzung des Zwölfprophetenkommentars von R. Josef Qara aus Troyes (11. Jh.).

Moderation: Professor Dr. Alexander Wöll


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