Der seit dem Frühjahr 2022 vielfach bemühte Topos der Zeitenwende insinuiert eine aktiv herbeizuführende Umkehr der Zeit, einen im Wortsinne richtungsweisenden Eingriff in den zeitlichen Verlauf. Er ist nicht so sehr deshalb von Interesse, da das Abstraktum Zeit unter Rückgriff auf räumliche Metaphern zu konkretisieren gesucht wird. Viel eher wirft er die Frage auf, was es bedeutet, in den vermeintlich unauhaltbaren Zeitverlauf eingreifen zu wollen, und dies nicht etwa nur retardierend oder beschleunigend, sondern qualitativ durch einen Kurswechsel. Der Vortrag möchte die Zeitenwende als Artikulation nichtlinearer Zeitlichkeit in Bezug setzen zu weiteren (narrativen) Bestrebungen der Zeitgestaltung und deren Metaphernhaushalt. Diese nämlich stehen für jeweils distinkte Zugriffe auf Zeit und Geschichte, begegnen aber allesamt der Herausforderung, die Idee linearer Zeit und ebensolcher geschichtlicher Darstellungen aufzubrechen. Die Auseinandersetzung mit diesen Versuchen kann unser gegenwärtiges Verständnis von Zeit problematisieren als eines, das permanent „in the making“ ist. Denn die Vorstellung einer seienden Zeit, der Menschen einfach ausgesetzt sind, ist nicht nur Entlastung, sondern zugleich Provokation. Und die aktiven Modellierungen sind als eine Reaktion auf Letztere zu begreifen.
Sina Steglich ist Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor war sie unter anderem an der Universität Konstanz und am German Historical Institute London tätig. In ihrer Promotion widmete sie sich der Zeitengeschichte des 19. Jahrhunderts. Aktuell arbeitet sie zu sozialer Kohäsion am Beispiel des Nomadismus als Reflexionsfigur der Moderne. In ihrer Forschung interessieren sie darüber hinaus vor allem konzeptionelle Fragen der Geschichte, Theorie und Methode der Geschichtswissenschaft.
Moderation: Privatdozentin Dr. Caroline Rothauge
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