Die vor gut 60 Jahren bei Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres entdeckten Schriftrollen bewegen die Öffentlichkeit und die Forschung. Aufgrund anderer antiker Quellen wurden die Texte schnell mit der jüdischen ‚Sekte‘ der ‚Essener‘ in Verbindung gebracht, von denen schon durch die Jahrhunderte vielfältige Vorstellungen kursierten. Damit begann ein interpretatorisches Verschiebespiel, in dem die Größen ‚Jesus und die Urchristen‘ , ‚Essener‘, ‚klassisches Judentum‘ und ‚Schriftrollen‘ einander in vielfältiger Weise zugeordnet wurden.
In der neueren Forschung wurden diese Zuordnungen teils heftig in Frage gestellt. Doch lassen sich angesichts der nun vollständigen Publikation der Textfunde die alten Fragen in neuer Weise stellen: Wer waren die Benutzer von Qumran, und wie hängen die Schriftrollen mit der Ortslage zusammen? Welche Aufschlüsse können diese Texte über Jesus und die Urchristen geben? Und was ergibt sich aus den vielfältigen neuen Quellen für unser Bild der Anfänge des Christentums?
Der Vortrag soll aufgrund aktueller Forschungen einige dieser Fragen beantworten, aber zugleich das Bewusstsein dafür wecken, dass die Auswertung und Einordnung antiker Textkorpora im Horizont öffentlichen Interesses ein interpretatorisches Abenteuer ist, in dem der Standpunkt und die Perspektive der Interpreten stets mit zur Disposition steht.
Jörg Frey (* 1962 in Freudenstadt) ist Ordinarius für Neues Testament mit Schwerpunkt Neues Testament und antikes Judentum an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Schwerpunkt seiner Forschung ist u. a. die johanneische Eschatologie, mit der er sich im Rahmen seiner Dissertation (1996) und seiner Habilitation (1998) beschäftigte. Als Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald erforscht er derzeit die Bedeutung der Schriftrollen von Qumran für die Bibelwissenschaft.
Moderation: Professor Dr. Christfried Böttrich