„unusquisque in suo sensu abundet“ (Röm 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Theologie des lateinischen Westens?

Öffentlicher Abendvortrag

Entgegen der verbreiteten Vorstellung vom Mittelalter als einer Epoche kirchlich-autoritativer Fixierung eindeutiger Wahrheiten lässt sich zeigen, dass sowohl Exegeten wie Dichter der Epoche im Umgang mit den großen lateinischen Schriftcorpora − der Bibel und der antiken Autoren − die unaufhebbare Mehrdeutigkeit ihrer Texte nicht nur erkannten und akzeptierten, sondern sogar als besonderen Wert zu schätzen wussten und als Lizenz für ihre Arbeit in Anspruch nahmen. Diese ‚Ambiguitätstoleranz‘, die Deutungsvielfalt, differierende Diskurse, konkurrierende Wertecodes in der mittelalterlichen Gesellschaft ermöglichte und pflegte, ist nicht nur als historisches Phänomen interessant und bisher kaum beachtet, sondern sie macht auch aufmerksam auf ein Problem von hoher Relevanz für plurale Gesellschaften heute.
Professor Dr. Christel Meier-Staubach (geb. 1942 in Greifswald) studierte Griechische, Lateinische und Mittellateinische Philologie sowie Germanistik in Marburg, Kiel und Münster. Nach der Promotion mit der Arbeit ‚Gemma spiritalis‘ war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin, später Projektleiterin und Sprecherin in drei Sonderforschungsbereichen. Sie lehrte Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit in Wuppertal und Münster von 1983 bis 2008. Christel Meier-Staubach ist Ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied im Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘. Ihre Hauptforschungsgebiete sind Hermeneutik, Symbolik, Literaturtheorie des Mittelalters, Text und Bild, Enzyklopädik, Mystik und Drama.
Moderation: Professor Dr. Oliver Auge


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