Zeiten und Wende. Wissenschaftliche Reflexionen und Interventionen

Internationale Fachtagung

Den russischen Angriff auf die Ukraine nahm Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar 2022 zum Anlass, von einer ‚Zeitenwende‘ zu sprechen. Spätestens seitdem findet der Begriff großen Widerhall in deutschsprachigen Öffentlichkeiten und scheint geeignet, unterschiedlichen kollektiven Empfindungen Ausdruck zu verleihen: sei es mit Blick auf Arbeitswelten (Stichwort: Viertagewoche), die Covid-19-Pandemie oder langfristige Entwicklungen wie Klimawandel und Debatten um das Anthropozän.

Doch: Was ist mit ‚Zeiten‘ gemeint, ‚wenden‘ sie sich tatsächlich und, wenn ja, wie? Was ist das singuläre Moment des Wandels, das unterstellt wird? Welche Rolle spielen jeweils gegenwärtige Kontexte dabei, ‚Zeitenwenden‘ auszumachen, und gehen sie mit spezifischen Sichtweisen auf Vergangenheit – das ‚davor‘ – und Zukunft – das ‚danach‘ – einher? Gibt es Kontinuitäten in der ‚Wende‘ oder ist alles in Veränderung begriffen und der Wandel unumkehrbar?

Komposita aus den Begriffen ‚Zeit‘ und ‚Wende‘ sind alles andere als neu. Klar ist, in Vergangenheit wie Gegenwart: Die Verbindung des Begriffs der ‚Wende‘ mit Konzepten von ‚Zeit‘ ist als eine Setzung anzusehen. Häufig stand sie mit kultischen und religiösen Praktiken in Zusammenhang. Ein Beispiel bietet der Kult des römischen Gottes Janus, der in seiner doppelköpfigen Gestalt über Anfang und Ende wachte und früh mit dem zyklischen Ablauf des Jahres verbunden wurde. Monotheistische Religionen machen zeitliche Wendepunkte an unterschiedlichen Ereignissen fest: an den von Gott bei der Schöpfung gesprochenen Worten (Judentum), an der Geburt Christi (Christentum), am Aufbruch Mohammeds nach Medina (Islam). Auch im Rahmen säkularer Ordnungen wurden Begriffe wie jener einer „neuen Zeit“ emphatisch verwendet und kalendarisch funktionalisiert, zum Beispiel im Zuge der Französischen Revolution wie auch in Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklungen der Jahre nach 1989 gelten oder galten paradigmatisch als die ‚Wendezeit‘.

Wir möchten diese und weitere Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart zum Anlass nehmen, Begrifflichkeiten und Erfahrungen, Narrative und Theorien, Praktiken und Ziele rund um ‚Zeit(en)‘ und ‚Wende‘ zu vergleichen und kritisch zu reflektieren. Die Thematik kann aus jeder geistes-, sozial- oder naturwissenschaftlichen Disziplin betrachtet werden.

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